Wie erleben Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend die Corona-Pandemie?
11.11.2020 Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs veröffentlicht die Ergebnisse einer Online-Befragung zur Situation von betroffenen Menschen
Die Kommission führte vom 9. Juni bis zum 5. Juli 2020 eine Online-Befragung unter Betroffenen sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend zur Corona-Pandemie durch. Ziel der Befragung war es, zu erfahren, wie die Corona-Pandemie in der Zeit der Kontaktbeschränkungen von Betroffenen erlebt wurde.
Die Stimmen der Betroffenen anzuhören, ist für die Kommission eine zentrale Aufgabe. Dies gilt insbesondere in einer Zeit mit großen Belastungen. Es ist gerade jetzt besonders wichtig, für Betroffene sichtbar und ansprechbar zu sein.
Prof. Dr. Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission
An der Befragung der Kommission nahmen 823 Personen teil: 698 Frauen, 92 Männer und 33 Personen, die ihr Geschlecht als divers angaben. Die meisten der Teilnehmenden waren 30 Jahre und älter. Die größten Altersgruppen stellten die 41- bis 50-Jährigen sowie die 51- bis 60-Jährigen (29% bzw. 30,9%). Alle Befragten machten auch Angaben darüber, wo sie in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erlebt haben. Beim überwiegenden Teil geschah dies in der Familie.
Die Ergebnisse der Befragung machen deutlich, dass die Pandemie und die Infektionsschutzmaßnahmen wie die Kontaktbeschränkungen von Betroffenen sehr unterschiedlich erlebt und beurteilt wurden. Hier zeigen sich kaum Unterschiede zur gesamten Bevölkerung in Deutschland.
Doch ebenso deutlich wird, dass die Pandemie und die Schutzmaßnahmen von vielen Betroffenen vor dem Hintergrund ihrer Gewalterfahrungen erlebt werden. Insbesondere das verpflichtende Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im öffentlichen Raum hat gegensätzliche Reaktionen und Haltungen hervorgerufen. Ein Teil der Befragten lehnte diese Maßnahme strikt ab, weil das Tragen der Schutzmasken beispielsweise Panikattacken hervorrief. Ein anderer Teil begrüßte den Mund-Nasen-Schutz mit der Begründung, dass er ihnen Sicherheit vermittele.
Prof. Dr. Barbara Kavemann, Mitglied der Kommission
74% der Befragten gaben an, Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und eingeschränkter Selbstbestimmung seit der Pandemie zu empfinden. Dies erinnere sie an die Zeit, in der sie als Kind hilflos der Macht anderer ausgeliefert waren. Dagegen begrüßten ebenso viele Betroffene, dass immer mehr Menschen Schutzmasken tragen. Einige betonten darüber hinaus, dass sie das Abstandhalten und die reduzierten sozialen Kontakte als angenehm und entlastend empfunden haben.
Viele Betroffene sorgten sich wegen des veränderten Alltags und weil soziale Kontakte und Unterstützungsangebote weggefallen waren, dass Ängste erneut aufkommen und zu einer persönlichen Krise führen könnten. Wegen der Kontaktbeschränkungen war für etwa die Hälfte eine Therapie und Beratung nicht mehr bzw. nicht ausreichend gewährleistet. 91,8 % der Befragten gaben an, dass ihre Treffen mit der Selbsthilfegruppe, ein für Betroffene wichtiges Unterstützungsangebot, nicht mehr stattfanden. Ein Teil der Betroffenen erlebte diese sogar als um Jahre zurückgeworfen.
Knapp ein Drittel der Befragten gab finanzielle Sorgen seit Beginn der Pandemie an. Für Personen, die bereits zuvor in einer prekären Situation gelebt haben, hat sich die Lage vielfach zugespitzt. Finanzielle Sorgen drückten sich auch in der Befürchtung aus, dass durch die zusätzlichen Kosten, die zur Bewältigung der Corona-Pandemie in allen Bereichen der Gesellschaft entstehen, die Chancen auf angemessene Entschädigungsleistungen schwinden.
Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs wird sich weiterhin mit der Situation von betroffenen Menschen in der Corona-Pandemie befassen. Eine zweite Veröffentlichung zur Online-Befragung ist in Arbeit. Dafür sollen die umfangreichen Kommentare ausgewertet werden, die über 400 Personen in den Fragebögen mitgeteilt haben. Sie ermöglichen einen vertiefenden Einblick in das Erleben und eröffnen weitere Perspektiven zur Unterstützung betroffener Menschen.