„Mich beeindruckt immer wieder der Mut von Betroffenen“


28.12. 2023 - Kommissionsmitglied Dr. Christine Bergmann beendet ihr Ehrenamt zum Ende des Jahres 2023. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen war stets Teil ihrer politischen Arbeit. Mit der Umsetzung von Kinderrechten befasste sie sich insbesondere als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 1998 bis 2002. 2010-2011 war Christine Bergmann die erste „Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs“. Seit 2016 war sie Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Im Interview blickt sie zurück auf ihre Arbeit in der Kommission und den Stand der Aufarbeitung in Deutschland.


Portrait Christine Bergmann

Frau Bergmann, 2016 wurde die Kommission berufen, erst einmal nur für vier Jahre, zwischenzeitlich noch einmal verlängert. Wahrscheinlich, weil man dachte: Das macht man einmal, und dann ist die Aufarbeitung erledigt. Was sagen Sie dazu?

Das war ein Trugschluss. Das dachte man schon 2010, als der Runde Tisch eingesetzt wurde. Aber es geht ja nicht um die Aufarbeitung einer abgeschlossenen Epoche, die vorbei ist, wie zum Beispiel die Stasivergangenheit. Mit dem Ende der DDR war klar, die Stasi ist vorbei und man konnte aufarbeiten. Aber sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist leider nicht vorbei, wir wissen, dass immer wieder neue Fälle hinzukommen, also ist leider kein Ende in Sicht. Wir können nur alles dafür tun, dass es immer weniger neue Fälle werden, das ist unser Ziel. Und die Menschen, die vor Jahrzehnten den Missbrauch erlebt haben und noch immer darunter leiden brauchen Unterstützung und Anerkennung.

Wenn Sie auf die Jahre in der Kommission zurückblicken, was waren die größten Herausforderungen?

Die größte Herausforderung ist immer, die Abwehr zu überwinden, Aufarbeitung als notwendige Aufgabe überhaupt anzunehmen. Das ist kein angenehmes Thema, es belastet, weil Dinge nicht richtig gelaufen sind, Institutionen nicht auf Verdachtsfälle reagiert und vertuscht haben, Kinder nicht geschützt wurden. Es gibt also immer Abwehr gegen dieses Thema, und das betrifft nicht nur die Institutionen, sondern auch die Familien. Schauen wir auf eine von UBSKM beauftragte Umfrage, die gezeigt hat, dass das Wissen über sexuelle Gewalt verbreitet ist. Aber die Frage „Können Sie sich vorstellen, dass das in Ihrem eigenen Umfeld passiert?“ wurde zu 85 Prozent mit Nein beantwortet. Das sind die größten Herausforderungen, über die man hinwegkommen muss.
Und wenn man sich die Tatkontexte anguckt ist natürlich der Bereich der Familie enorm wichtig aber weniger im Blickfeld als zum Beispiel die Katholische Kirche. Wir wissen aber aus unseren Anhörungen, auch wenn sie nicht repräsentativ sind, dass ungefähr 70 Prozent der Missbrauchsfälle in der Familie passieren. Das ist besonders schwierig für die Betroffenen, weil man aus der Familie ja nicht raus kann. Dort, wo man eigentlich Schutz finden sollte, und dann verraten und verlassen zu sein, das ist schon schwer zu ertragen. Wir hören bei den vertraulichen Anhörungen, welche Folgen das für das ganze weitere Leben hat. Und die Fragen nach Unterstützungsleistungen für die Betroffenen oder gar Entschädigung sind noch einmal sehr viel schwerer zu lösen.

Auf welche Meilensteine der Kommission schauen Sie gerne zurück?

Die öffentlichen Hearings, die die Kommission zu verschiedenen Kontexten durchgeführt hat, waren Fixpunkte, an denen eine Sensibilisierung gelungen ist. Das öffentliche Hearing zum Thema Missbrauch in der DDR war so ein Meilenstein. Wir haben bestätigt gefunden, wie stark das Thema in der DDR tabuisiert war. Es wurde nicht darüber gesprochen. Und es gab viele Reaktionen Betroffener, schon bei der Veranstaltung, aber auch hinterher. Menschen, die erleichtert sagten: „Ich habe ja nicht gewusst, dass es das in der DDR gab!‘“, die dann wussten: sie sind nicht die Einzigen, sondern es ist ein Missbrauchsfall, wie wir sie in ganz Deutschland haben. Aus dem Hearing ging auch hervor, dass wir uns um das Thema noch einmal extra kümmern müssen. Und das tut die Kommission mit Fachgesprächen und in Kooperation mit den Landesbeauftragten der neuen Bundesländer zur Aufarbeitung von DDR-Unrecht.

Christine Bergmann hinter Rednerpult beim Fachgespräch Magdeburg
Christine Bergmann 2023 beim Fachgespräch zu sexuellem Kindesmissbrauch in der DDR.

Gab es einen Moment, der für Sie persönlich in Erinnerung geblieben ist?

Es sind eigentlich immer, insbesondere in den öffentlichen Hearings, die Berichte der Betroffenen. Der Mut, mit dem Betroffene sprechen. Es ist ja nicht einfach, aber sie machen das, weil sie wollen, dass die Gesellschaft erfährt, was da passiert. Immer mit dem Ziel, zum Kinderschutz beizutragen. Das schwingt bei allen mit, und das zu erleben ist immer wieder bewegend. Denn ohne das Sprechen der Betroffenen kann man eine Gesellschaft nicht sensibilisieren.

Wie Sie erwähnten, mussten sich die Betroffenen die Teilnahme am Runden Tisch 2010 - 2011 erst hart erkämpfen. Demgegenüber hat die Kommission gemeinsam mit dem UBSKM-Amt und dem Betroffenenrat in diesem Jahr einen Dialogprozess gestartet, der Standards für die Betroffenenbeteiligung in Aufarbeitungsprozessen von Institutionen erarbeiten soll. Welchen Weg sind wir in der Betroffenenbeteiligung gegangen?

Wir haben alle miteinander gelernt, und zwar eine ganze Menge. Heute ist klar: Man kann nicht Aufarbeitungsprozesse beginnen, ohne Betroffene zu beteiligen. Wichtig ist natürlich auch die Form der Beteiligung. Wir haben auch Erfahrungen gemacht, wie es schlecht umgesetzt wurde, z.B. in einigen Aufarbeitungskommissionen der katholischen Kirche. Aber ich denke, dass der jetzt begonnene Dialogprozess zur Betroffenenbeteiligung ganz wichtig ist, um zu sehen: Welche Strukturen braucht man dazu? Was brauchen Betroffene? Es geht ja auch darum, ihr Empowerment zu stärken.

Nehmen Sie auch eine Änderung in Politik und Forschung wahr, dass Betroffene besser einbezogen werden?

Es wird ernster genommen, aber dass das so ist, ist das Verdienst der Betroffenen selber. Sie achten darauf, dass sie beteiligt werden, und melden sich auch laut, wenn das nicht der Fall ist. Ein Beispiel dafür ist der Stakeholder-Prozess zum Zentrum Safe Sport. Im Einflussbereich der UBSKM und der Kommission werden Betroffene in Forschungsprojekte und Studien einbezogen, damit von ihrem Sprechen, also ihrer Anhörung, bis zum Forschungsbericht ihre Beteiligung immer sichergestellt ist. Über dieses Umfeld hinaus ist noch viel zu tun, partizipative Forschung ist noch ein sehr unterentwickeltes Gebiet.

Zur Betroffenenbeteiligung passt auch der Kontext evangelische Kirche, wo ein erster Betroffenenrat im Streit aufgelöst wurde. Das ist ein Feld, welches Sie sehr eng verfolgt haben. Wo stehen wir da?

Die evangelische Kirche hat jetzt einen Schritt nachvollzogen, den die katholische Kirche schon vor drei Jahren gemacht hat, also gemeinsam mit der Diakonie und UBSKM eine gemeinsame Erklärung zu unterschreiben, wo es um Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung unter entsprechender Beteiligung der Betroffenen geht. Das geht dann noch ein Stück weiter als die Erklärung mit der katholischen Kirche. Aber es muss natürlich auch umgesetzt werden. Und wir müssen schauen, was in der ForuM-Studie herauskommt. Dennoch ist die wirkliche Aufarbeitung in der evangelischen Kirche noch ganz am Anfang. Es gibt Anerkennungsleistungen, die jede Landeskirche anders festlegt, das ist aber noch keine Aufarbeitung. Die beginnt erst dann, wenn man nicht nur aufklärt, was ist passiert, sondern auch: Wie konnte es passieren, was wurde falsch gemacht und was können wir für die Zukunft daraus lernen?

Welche Zukunft sehen Sie für die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs?

Wir reden schon die ganze Zeit darüber, dass es auch eine politische, eine staatliche Verantwortung für Aufarbeitungsprozesse geben muss. Da ist bisher noch nicht viel erfolgt, um nicht zu sagen: gar nichts. Aber es ist notwendig, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Aufarbeitung in den Institutionen zur Verpflichtung machen und gleichzeitig die Betroffenen einen Anspruch bekommen auf Aufarbeitung und Unterstützung. Das heißt, dass anerkannt wird, dass Unrecht geschehen ist, Leid verursacht wurde. Und dass die Betroffenen Zugang bekommen zu ihren Akten. Notwendig ist, dass Betroffene sehr viel mehr Unterstützungsleistungen bekommen. Dass ihnen geholfen wird beim Zugang, beim Lesen und beim Auswerten der Akten, neben den Leistungen, die sie natürlich auch brauchen, wie Therapien.

Was machen Sie heute in drei Monaten? Wie sieht Ihr Ruhestand dann aus?

Das lasse ich auf mich zukommen. Es gibt viele Dinge, die bei mir in der letzten Zeit sehr vernachlässigt wurden. Ich hab‘ keine Sorge, dass mir langweilig wird.

Mehr über Christine Bergmann

Das Interview führte Sonja Gerth


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