Fachgespräch Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR – Fokus Totale Institutionen
Magdeburg, 04.07.2023 – In einer zweiten regionalen Veranstaltung in den östlichen Bundesländern diskutierte die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs mit Gästen über sexuellen Kindesmissbrauch in der DDR. Im Fokus der Veranstaltung in Sachsen-Anhalt standen Totale Institutionen, etwa Spezialheime, Jugendwerkhöfe und Venerologische Stationen.
Kommissionsmitglied Dr. Christine Bergmann wies zum Auftakt der Veranstaltung in Magdeburg darauf hin, dass dazu noch viel Material in den Archiven lagere, das darauf wartet, ausgewertet zu werden. Die Aufarbeitung müsse die politischen Hintergründe und persönlichen Lebensbedingungen der Betroffenen in der DDR berücksichtigen. So sei über die Venerologischen Stationen, umgangssprachlich einem Teil der Bevölkerung als „Tripperburgen“ bekannt, als besonders schreckliches Kapitel von DDR-Unrecht noch viel zu wenig bekannt.
Meine Sorge ist, dass es immer weniger Bereitschaft in der Bevölkerung gibt, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Die Abwehr ist groß, gerade in den östlichen Bundesländern.
Christine Bergmann
Die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, erinnerte daran, dass die Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone mit der Massenvergewaltigung von Frauen und Mädchen begonnen habe, über die im Anschluss nicht gesprochen werden durfte. Auf das Schweigen der Opfer habe die Regierung auch später gebaut, als sie für Personen, die ihr „nicht genehm“ waren, totale Institutionen ausbaute. Während die Betroffenen auch Jahrzehnte später noch an den Folgen der Gewalt litten, hätten die Täter nach 1990 nicht vor Gericht gestanden, die meisten Missbrauchsfälle seien ohne strafrechtliche Aufarbeitung verjährt.
Die geschlossenen Venerologischen Stationen
Im ersten Gesprächspanel ging es um geschlossene Venerologische Stationen. Diese waren dem Namen nach Fachabteilungen für Geschlechtskranke, erläuterte Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm, der umfangreiche Forschungen über die Stationen veröffentlicht hat. Frauen und Mädchen ab 12. Lebensjahr wurden zwangseingewiesen – ohne Aufklärung und meist ohne medizinische Indikation. In Wirklichkeit dienten sie als Vorwand, um dem Regime missliebige Mädchen und Frauen wegzusperren; besonders galt das für meist junge Frauen, die der „Herumtreiberei“ bezichtigt wurden. In tausendfacher Zahl seien sie für vier bis sechs Wochen auf die geschlossenen Stationen gebracht worden, auch wenn die wenigsten von ihnen tatsächlich eine Geschlechtskrankheit hatten. Heraus seien sie jedoch erst gekommen, nachdem sie über einen längeren Zeitraum hinweg täglich und teils gewalttätig einen vaginalen Abstrich und andere Formen von Gewalt über sich ergehen lassen mussten.
Angelika Börner kam in den 1960-er Jahren als 15-jährige in eine solche Station, mutmaßlich auf Initiative ihrer Mutter. Sie erzählte in deutlichen Worten von der Gewalt und dem sexuellen Missbrauch, die sie und andere Mädchen und Frauen in der damals so genannten „Tripperburg“ Halle erlitten. Dazu zählten auch Vergewaltigungen durch mutmaßliche Stasi-Mitarbeiter, für die die Mädchen und Frauen von den Mitarbeitenden der Kliniken mit Medikamenten gefügig gemacht wurden. Angelika Börner schilderte, welche Folgen das Erlebte bis heute hat, darunter Berufsunfähigkeit und Schlafstörungen sowie Schwierigkeiten im Umgang mit medizinischem Personal.
Wenn ich ins Krankenhaus gehe, nehme ich das Buch von Professor Steger mit, spreche mit dem Stationsarzt, gebe ihm das Buch und sage, ‚Wenn Sie das lesen, komme ich bei Ihnen auf die Station, vorher nicht.'
Angelika Börner
Eine Opferrente erhalte sie lediglich für ihre Zeit im Jugendwerkhof, eine Entschädigung für die Zeit in der Venerologischen Station habe sie bis heute nicht erhalten.
Die Situation von Betroffenen in Heimen
Im zweiten Panel sprachen Corinna Thalheim von der Betroffeneninitiative ehemaliger DDR Heimkinder und Prof. Dr. Beate Mitzscherlich von der Fachhochschule Zwickau über Spezialheime und Jugendwerkhöfe. Prof. Dr. Mitzscherlich war 2019 Mitautorin einer Fallstudie für die Kommission über sexuellen Kindesmissbrauch in Institutionen und Familien in der DDR. Sie erläuterte noch einmal, dass mit „total“ solche Institutionen gemeint seien, in denen Menschen gezwungen waren, in Gemeinschaft zu leben, und in denen es eine totale Kontrolle aller Lebensvorgänge gab, vor allem solch basaler wie der Körperpflege. Dazu gehörten Kasernen, Psychiatrien, Heime und Werkhöfe. Viele dort eingesperrte Kinder und Jugendliche seien schon vorher in ihren Familien mit sexueller Gewalt konfrontiert gewesen. Im darauffolgenden Schritt hätten sie aber auch die Institutionen nicht geschützt. Im Gegenteil:
Es war die totale Verfügung über den Körper. Der Weg zur sexuellen Gewalt war dann eigentlich die logische Konsequenz.
Prof. Dr. Beate Mitzscherlich
Den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, in dem auch Corinna Thalheim war, bezeichnete Mitzscherlich als „das Herz der Finsternis“. Die Jugendlichen hätten hier keine Chance auf einen normalen Bildungsabschluss gehabt. „Man hat uns den Bildungsweg kaputt gemacht“, bestätigte Corinna Thalheim. Seit den 1990-er Jahren engagiert sie sich in der Gedenkstätte Torgau und leitet eine Selbsthilfe-Initiative. Es erstaune sie immer wieder, dass sich selbst heute noch Betroffene erstmalig bei ihr meldeten. Doch die Scham sei groß. In der Gesellschaft herrsche das Bild vor, dass es „schon einen Grund gab“, warum Menschen als Kinder oder Jugendliche im Heim gelandet seien. Diese Auffassung müsse raus aus den Köpfen.
Es geht nicht darum, warum sie ins Heim gekommen sind, sondern wie sie behandelt wurden, und mit welchen körperlichen und seelischen Schäden sie immer noch leben müssen.
Corinna Thalheim
Corinna Thalheim berichtete, dass viele Betroffene mit ihren gebrochenen Erwerbsbiografien an der Armutsgrenze lebten. Für viele sei die Opferrente alles. Es sei dringend notwendig, das Entschädigungssystem für weitere Betroffene zu öffnen und Rehabilitierungsverfahren zu vereinfachen.
Zugang zu Hilfen im Flächenland schwierig
Nachdem Dr. Jan Lemke, der als Richter am Landgericht Magdeburg viele Jahre mit Rehabilitierungsverfahren befasst war, das in den Heimen ausgeübte Unrecht juristisch eingeordnet hatte, diskutierten im dritten Panel die Psychologin Stephanie Knorr von der Beratungsstelle „Gegenwind“ für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur sowie Siegfried Hutsch vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Sachsen-Anhalt über den Zugang zu Hilfen.
Ihre Klientinnen und Klienten litten unter vielfältigen Gewalterfahrungen im Lebenslauf, insbesondere auch in der Haft, berichtete Stephanie Knorr. In den Beratungen arbeite man daher viel zum Lebenslauf der Personen. Es gebe aber auch nonverbale Verarbeitungsangebote, wie zum Beispiel die künstlerische Auseinandersetzung, oder Yoga. Ihrem Eindruck nach führten häufig biografische Brüche wie der Renteneintritt oder eine längere Krankheit, Menschen dazu, nach einer Therapie oder Unterstützung zu suchen. Doch während es bei „Gegenwind“ eine Sensibilität für die spezifische Traumatisierung gebe, sei das bei Psychotherapeuten nicht immer der Fall.
Siegfried Hutsch berichtete über Präventionsangebote in Sachsen-Anhalt, etwa Module zu sexuellem Kindesmissbrauch für Fachkräfte in Kitas und eine Theaterwerkstatt. Daneben sei es aber auch wichtig, die Aufarbeitung in Institutionen sowie die Betroffenenbeteiligung zu verbessern.
Aus dem Publikum meldete sich daraufhin eine Fachberaterin und erläuterte, dass sich nach dem genannten Theaterstück zu sexualisierter Gewalt regelmäßig Kinder anvertrauen würden, die Lehrerinnen und Lehrer aber nicht intervenierten, weil sie sich schlicht weigerten und auch nicht an Fortbildungen zum Thema teilnehmen wollten. Siegfried Hutsch erwiderte, dass es wichtig sei, hier eine Sensibilisierung für die Fragestellung zu erreichen.
Im abschließenden Panel über Perspektiven der Aufarbeitung erklärte die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur, Evelyn Zupke, dass sie Handlungsbedarf sehe für mehr Forschung über Totale Institutionen der DDR, aber auch für die Unterstützung von Betroffenen. Dies habe sie auch in ihrem letzten Bericht an den Bundestag angemahnt. Aus zahlreichen Berichten an sie und ihre Mitarbeitenden wisse sie, dass die Scham, über sexualisierte Gewalt zu berichten, bis heute groß sei. Besonders Heimkinder lebten oft mit einem Stigma.
Aufarbeitung kann nur gelingen, wenn wir Resonanzräume offenhalten. Und Betroffene sprechen eben erst sehr, sehr spät.
Angela Marquardt
Die Geschichten von Betroffenen seien aus ihrer Erfahrung oft ein Türöffner, um politische Ziele wie eine bessere Versorgung von Betroffenen durchzusetzen, ergänzte Evelyn Zupke. Angela Marquardt vom Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs sah die Nutzung der Geschichten kritisch, begrüßte aber den Vorschlag der Bundesbeauftragten, sich für mehr Forschung einzusetzen. So seien unter anderem aus den zahlreichen Stasi-Akten sicher noch viele Erkenntnisse zu gewinnen. Kommissionsmitglied Prof. Dr. Heiner Keupp brachte daraufhin die Forderung nach einem Recht auf Aufarbeitung und das Recht auf die eigene Akte ein – auch wenn viele Betroffene von einer möglichen Retraumatisierung berichtet hätten.
Das Lesen der Akten sei schwierig, bestätigte Evelyn Zupke. In den Jugendhilfeakten der DDR über Kinder und Jugendliche sei natürlich kein pädagogischer Ansatz vorhanden gewesen. Die Betroffenen müssten befähigt werden, die Sprache der Akten einordnen zu können. Mindestens genauso wichtig sei aber, wie Ämter die Akten lesen. Das sei insbesondere wichtig, weil Betroffene immer älter werden und beispielsweise im Heimbereich auf Pflege angewiesen seien.
Die Akten einer Diktatur lesen zu können, das läuft immer noch nicht gut. In den Versorgungsämtern gibt es nicht viel Wissen über diese Form der Repression.
Evelyn Zupke
Die Podiumsgäste waren sich einig, dass Veranstaltungen und das Thema Entschuldigung und Anerkennung wichtig seien, diese aber keine leeren Worte bleiben sollten und mit einer Finanzierung für wichtige Maßnahmen unterlegt sein müssten. Es sei wichtig, mehr in Forschung zu investieren, die Archivrecherche zu vereinfachen und Betroffenen einen leichteren Zugang zu Hilfsmöglichkeiten zu ermöglichen, resümierte Kommissionsmitglied Dr. Christine Bergmann zum Abschluss.
Die Politik muss Verantwortung übernehmen, um Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs in der DDR zu rehabilitieren und das Hilfesystem zu vereinfachen.
Dr. Christine Bergmann
Das Fachgespräch in Magdeburg war das zweite in einer Veranstaltungsreihe der Kommission zu sexuellem Kindesmissbrauch in der DDR.
Fotos: photothek