Tagung über den Umgang mit sensiblen Dokumenten bei sexuellem Kindesmissbrauch
30.06.2022 - Rund 70 Personen nahmen in Präsenz an der Tagung „Aufarbeitung, Akten, Archive- Zum Umgang mit sensiblen Dokumenten“ in Berlin teil. Etwa 1.000 Personen verfolgten die Veranstaltung im Livestream. Unter den zahlreichen Expertinnen und Experten auf der Bühne waren auch Gäste aus der Schweiz und den USA.
Als Kommissionsmitglied Matthias Katsch in seinem Schlusswort folgerte, dass es nicht dem Zufall überlassen sein dürfe, ob die Akte eines oder einer Betroffenen von sexuellem Kindesmissbrauch archiviert wird oder nicht, gab es noch einmal große Zustimmung aus dem Publikum in der alten Maschinenhalle der Malzfabrik in Berlin. Einig waren sich die Teilnehmenden der acht Panels auf der Tagung, dass der Zugang von Betroffenen zu ihren Akten erleichtert werden muss.
Der Blick in die Akten kann für Betroffene von sexualisierter Gewalt ein Puzzlestück sein, um ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Anhand von Belegen kann eine Auseinandersetzung mit dem Geschehen stattfinden. Doch auch gesellschaftliche Aufarbeitung braucht den Blick in die Archive. Ziel der Tagung war es, ein Bewusstsein für den Umgang mit sensiblen Dokumenten zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu schaffen. Außerdem sollte diskutiert werden, wie Quellen besser gesichert werden können, und wie ein besserer Zugang für Forschende und Betroffene ermöglicht werden kann.
Zu Beginn forderte der Bundestagsabgeordnete und religionspolitische Sprecher der SPD, Prof. Dr. Lars Castellucci, mehr Verbindlichkeit und mehr Tempo für die Aufarbeitung sowie sichtbare Konsequenzen für sexuelle Gewalt, die Kindern und Jugendlichen angetan wurde. Er stellte in seiner Keynote einen 10-Punkte-Plan für mehr Aufarbeitung vor. Danach solle die Aufarbeitungskommission in die Lage versetzt werden, einen verbindlichen Rahmen für Aufarbeitungsprozesse vorzugeben, für ganz Deutschland gleichzeitig solle sie diese Prozesse evaluieren, dafür müsse die Kommission gestärkt werden. Organisationen, in deren Rahmen sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche stattfindet, müssten rechenschaftspflichtig gegenüber der Kommission werden. Diese brauche dafür eine gesetzliche Grundlage und auch eine Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag.
Wir müssen politische Zuständigkeit für Aufarbeitung schaffen und dürfen das Thema nicht länger nur an Institutionen delegieren.
Prof. Dr. Lars Castellucci
Einblicke aus der Schweiz
Prof. Dr. Luzius Mader, Delegierter für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmaßnamen a.D., und Dr. Barbara Studer Immenhauser vom Staatsarchiv des Kantons Bern berichteten von ihren Erfahrungen mit dem Schweizer Aufarbeitungsgesetz. Die Impulse für das Gesetz gab der nationale Gedenkanlass von 2013, bei dem die Regierung Betroffene um Entschuldigung bat. Das Aufarbeitungsgesetz bezieht sich auf Opfer von fürsorgerischen Zwangsmaßnamen und Fremdplatzierungen, also Kinder und Jugendliche die bis 1981 von Behörden in Heimen oder Anstalten, bei Pflegefamilien oder als Arbeitshilfe in Bauernhöfen untergebracht waren. Es regelt deren Recht auf einen einfachen und kostenlosen Zugang zu den sie betreffenden Akten in staatlichen und kirchlichen Archiven, die umfassende Sicherung, Erschließung und Archivierung von Unterlagen, die Beratung und Unterstützung Betroffener, einen Solidaritätsbetrag für Betroffene, sowie die umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung.
Dr. Barbara Studer Immenhauser berichtete, dass es nach Inkrafttreten des Gesetzes 2016 einen großen Ansturm auf die Staatsarchive gab. Diese unterstützen die Betroffenen bei der Suche nach Akten z.B. in Gemeinden in Kirchen- oder sonstigen privaten Archiven, denn viele Betroffene waren an unterschiedlichen Orten und Heimen untergebracht. So wurde vermieden, dass die Betroffenen all die verschiedenen Behörden kontaktieren mussten. Insgesamt 11.000 Dossiers wurden seitdem erstellt. Probleme seien anfangs durch die teils mangelnde Zuarbeit der oft überforderten Gemeinden entstanden. Hier waren viele Gespräche und Überzeugungsarbeit nötig. Die Archive waren auch nicht auf die persönlich belastende Arbeit für Archivarinnen und Archivare eingestellt. Frau Studer Immenhauser erläuterte außerdem, dass sie die Dossiers mit den zusammen gestellten Akten für die Betroffenen kommentieren mussten, da sie oft eine abschätzige Sprache enthielten oder der Inhalt sehr verletzend war.
Behördliche Verfügungen haben teilweise großes Leid über Tausende von Menschen in der Schweiz gebracht. Kinder waren der behördlichen Willkür ausgesetzt. Dies hat lebenslanges Leid und Benachteiligung für die Betroffenen mit sich gebracht. Es war darum würdig, hier unbürokratisch und rasch zu handeln.
Dr. Barbara Studer Immenhauser
Ähnliche Erfahrungen hat Nora Wohlfarth vom Landesarchiv Baden-Württemberg gemacht. Das Archiv hat in verschiedenen Projekten Betroffenen von Heimerziehung, psychiatrischen Anstalten oder aktuell Verschickungskindern die Möglichkeit eröffnet, für sie biografische Recherchen zu betreiben. Bei Ämtern, Gerichten oder anderen Stellen, die Akten verwahren, habe es durchaus gefruchtet, wenn nicht die betroffene Person, sondern das staatliche Archiv angefragt habe, berichtete die Historikerin. Sie hielt die Unterstützung bei der Archivrecherche für sehr sinnvoll, bedauerte aber die zeitliche Befristung der Projekte. Hier bestehe Handlungsbedarf, der Bereich Aufarbeitung der Gewaltgeschichte von Kindern und Jugendlichen sollte verstetigt werden.
Uwe Dittmar war in seiner Kindheit und Jugend in sieben verschiedenen Heimen und hat dort auch sexualisierte Gewalt erlitten. Durch das Landesarchiv erhielt er Zugang zu seinen Akten und konnte so einen Teil seiner Kindheit rekonstruieren. Es war ihm wichtig zu erfahren, warum er eigentlich ins Heim kam. Die Akten erzählten eine andere Geschichte als die, die ihm seine Mutter immer berichtet hatte. Auch in Bezug auf die erlittene sexuelle Gewalt verschafften die Prozessakten aus dem Strafverfahren gegen einen Heimerzieher ihm Genugtuung.
Mir war bis zu dem Tag wo ich die Akten gelesen habe nicht klar, hat mir das Gericht geglaubt? Ja, der Täter ist mit weniger als einem blauen Auge davongekommen, aber: man hat mir und allen anderen, die danach vernommen wurden, geglaubt.
Uwe Dittmar
Prof. Dr. Christian Keitel vom Landesarchiv Baden-Württemberg warf anschließend die Frage auf, wie die Auswahl von Akten, die archiviert werden sollen, erfolgen müsste. Er wies zudem auf das Spannungsverhältnis zwischen der Unversehrtheit der Akte für Forschende und dem Wunsch der Betroffenen nach Korrektur oder Gegendarstellung hin. In Australien gebe es ein neues Konzept, nach dem die Akte als ein Ort der eigenen Biografie von Betroffenen weitergeführt werden kann, um ihr eigenes Leben zu beschreiben.
Dr. Andrea Hänger vom Bundesarchiv betonte, dass Betroffenen der Zugang zu Akten jederzeit gewährt werden müsse. Relevante Unterlagen gelangten jedoch oftmals nicht in die Archive, weil geltende Regelungen nicht umgesetzt würden.
Wir brauchen andere Wege, um den Betroffenen und ihren Angehörigen zu ihren Lebzeiten die Möglichkeit zu verschaffen, an Unterlagen gesichert heranzukommen.
Dr. Andrea Hänger
Eigentlich brauche es ein Recht darauf, die eigene Akte zu kennen, ergänzte Dr. Thomas Meysen vom SOCLES-Institut. Dr. Peter Rehberg vom Schwulen Museum war bei einem Aufarbeitungsprojekt mit Missbrauchsdarstellungen konfrontiert, die sich in Nachlässen befanden, die dem Schwulen Museum übergeben wurden. Er erläuterte, dass private Träger in einem Dilemma steckten, nämlich gleichzeitig „Dinge zu sichern und zu archivieren, die für Betroffene und die Forschung wichtig sind, und sich mit diesen Zeugnissen strafbar zu machen.“ Es brauche personelle und finanzielle Ressourcen, um als Bewegungsarchiv die Bestände fachgerecht zu erschließen.
Das Online-Archiv BishopAccountability.org
Im anschließenden Panel berichtete Terence McKiernan aus den USA im Gespräch mit Dr. Doris Reisinger von der Goethe-Universität Frankfurt über das von ihm gegründete digitale Archiv BishopAccountability.org. Dort seien 1,5 Millionen Seiten Archivmaterial zu sexuellem Missbrauch in Diözesen der USA gesammelt. Es gebe auch eine Datenbank über bis heute 7.000 Täter. Dr. Reisinger forschte mit Dokumenten aus dem Archiv zu weiblichen Betroffenen von sexuellem Missbrauch in der Katholischen Kirche. Sie berichtete, dass der Einblick in die Dokumente in Deutschland niemals so möglich gewesen wäre.
Wir [in den USA] dürfen die Namen von Tätern nennen. Wir dürfen Personalakten und Geheimakten sammeln und auch veröffentlichen. Unsere Datenbank hat dazu geführt, dass die Diözesen eigene Listen mit Namen von Beschuldigten veröffentlicht haben. Sobald eine Entwicklung angestoßen wird, setzen sich auch andere Dinge in Bewegung und weiten sich aus.
Terence McKiernan
Wer hat die Macht über die Quellen?
Dr. Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika forscht seit Jahren über die Sekte Colonia Dignidad und deren Verbrechen im Zusammenhang mit schwerem sexuellem Kindesmissbrauch in Deutschland und Chile und erschloss erstmals Primärquellen aus Behörden- und Privatarchiven. Er berichtete über die anfänglichen Schwierigkeiten, Akten aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes oder der Justiz zu erhalten.
Ich habe schnell gemerkt, dass dies ein politisch sehr sensibles Thema war. Als Forscher hatte ich das Gefühl die Behörden wollen nicht, dass ich in die Tiefen des Archivs Einblick bekomme.
Dr. Jan Stehle
Stehle betonte, dass hier langfristig ein Paradigmenwechsel nötig sei: Von Angst und Verschwiegenheit zu einem transparenteren und demokratischeren Zugang zu Akten. Eine Beratung und Vernetzung von Forschenden, die über Akten am Thema Missbrauch arbeiten, sei wünschenswert.
Prof. Dr. Thomas Schüller von der Universität Münster ist Experte für Kirchenrecht. Sie diskutierten darüber, welche Inhalte überhaupt Eingang in die Akten finden und wie diese für die Wissenschaft zugänglich werden. Es sei schwierig, wenn Archivbestände von Institutionen gehütet würden, die Missbrauchstäterinnen und -täter weiterbeschäftigt oder gedeckt hätten oder nicht gegen Missbrauch vorgegangen seien. Das Vorgehen dieser Institutionen würden sich auch in den Akten widerspiegeln.
Bei heiklen Themen hat man keine Spuren hinterlassen, das ist das Problem.
Prof. Dr. Thomas Schüller
Dabei seien Belege für Betroffenen immens wichtig, auch für eine materielle Entschädigung. Alle kirchlichen Stellen sollten gesetzlich verpflichtet werden, Betroffenen Einblick in ihre Archive zu gewähren.
Recht auf Aufarbeitung
Prof. Dr. Stephan Rixen von der Universität Köln hielt in seinem Vortrag ein Plädoyer für das Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung. Er sei überzeugt, dass der Staat einen stärkeren Rahmen für die Aufarbeitung setzen müsse.
Es geht um eine grundrechtliche Schutzpflicht für die Folgen des Unrechts im Lebenslauf. Wo der staatliche Schutzauftrag versagt hat in der Verhinderung, bedeutet das nicht, dass der Staat sich aus der Verantwortung stehlen kann.
Prof. Dr. Stephan Rixen
Gesellschaftliche Anerkennungsprozesse, eine Reorganisation der finanziellen Entschädigung und eine Neugewichtung zwischen den Grundrechten der beschuldigten Personen und dem Schutzrecht der Betroffenen könnten dazu beitragen, dass „aus einer individuellen Leiderfahrung eine intergenerationelle Lernerfahrung“ werde, so der Jurist.
Angela Marquardt vom Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und Dr. Johannes Kistenich-Zerfaß vom Hessischen Landesarchiv ordneten gemeinsam mit Kommissionsmitglied Prof. Dr. Heiner Keupp die Bedeutung von Archiven für die Aufarbeitung abschließend noch einmal ein. Heiner Keupp machte darauf aufmerksam, dass für die von ihm begleiteten Aufarbeitungsprozesse in vielen Fällen Unterlagen aus Archiven nicht bereitgestellt wurden. Es bedürfe daher auch einer nachhaltigen Unterstützung durch juristische Fachpersonen. Die Kommission selbst habe mit Einverständnis der Betroffenen auch eine Art Archiv und damit einen Ort der Erinnerung geschaffen.
Angela Marquardt mahnte, dass bisher zu wenig darauf geachtet werde, welche Verletzungen der Einblick in die eigene Akte bei Betroffenen auslösen könnte. Betroffene müssten auch Grenzen setzen dürfen und die Herausgabe der eigenen Akten verweigern können. Es sei wichtig, dass Forschende diesbezüglich Betroffene miteinbeziehen. Zu bedenken sei außerdem, dass beim Tatkontext Missbrauch in der Familie oftmals gar keine Akten vorhanden seien.
Ich werde den Tag, an dem ich meine Akte eingesehen habe, lange, lange nicht vergessen können. Für Betroffene sind das harte Erfahrungen. Und dafür brauchen sie Unterstützung.
Angela Marquardt
Johannes Kistenich-Zerfaß erinnerte an die nicht gelösten Fragen zur Aufbewahrung, und begrüßte die Absicht der Kommission, Empfehlungen und einen Leitfaden zur Sicherung von und zum Umgang mit sensiblen Dokumenten zu erarbeiten. Dieser könne sowohl Forschenden, den Registraturen in Behörden, als auch den Archiven selbst dienen. Mit gleicher Zielsetzung sei inzwischen eine Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder eingerichtet worden. Neben den staatlichen und kommunalen Archiven müssten auch kirchliche und freie Träger einbezogen werden. Darüber hinaus bedürfe es neben praktikablen Lösungsansätzen einer Haltung der verantwortlichen Personen, sich dem Thema anzunehmen.
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Alle Fotos © eventfotografen.berlin