Tagung „Archive und Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“
27.03.2019 Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs veranstaltete in Kooperation mit dem Hessischen Landesarchiv die Tagung „Archive und Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ in Darmstadt.
Öffentliche Archive bewahren dauerhaft Zeugnisse der Vergangenheit für vielfältige Fragestellungen auf und machen diese Quellen auf rechtlicher Grundlage für die Öffentlichkeit zugänglich. So steht etwa mit dem 2015 an das Hessische Staatsarchiv Darmstadt übertragenen Archiv der Odenwaldschule eine dichte Überlieferung für die bildungshistorische Forschung ebenso wie für die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur Verfügung.
In neun Vorträgen wurden zentrale Herausforderungen im Umgang mit Dokumenten zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauch in Archiven erörtert. Die Tagung behandelte unter anderem folgende Fragen: Wie sind Auskunfts- und Einsichtsrechte für Betroffene und Forschende geregelt? Welche Möglichkeiten bestehen, die eigene Sichtweise der Betroffenen ergänzend zur Aktenlage zu dokumentieren? Können Dokumente, die das Persönlichkeitsrecht von Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs gravierend verletzen aus dem Bestand genommen werden? Sollte es einen Vernichtungsstopp für Akten geben, die das Thema Kindesmissbrauch beinhalten? Wie gehen Archive mit Material pädosexuellen Inhalts, wie zum Beispiel Fotografien mit Missbrauchsabbildungen um?
Der Bestand der Odenwaldschule im Landesarchiv Darmstadt
Dr. Johannes Kistenich-Zerfaß ist Direktor des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt und hat mit seinem Team den gesamten Archivbestand der Odenwaldschule erfasst:
„Wie gehen wir um mit der Erwartung Betroffener an Sicherung und Zugänglichkeit zu den auch sie betreffenden Unterlagen bis zum ‚Recht auf informationelle Selbstbestimmung‘ und der Forderung auf Herausgabe aller die eigene Person betreffender Unterlagen?“
Mit den Akten der Odenwaldschule soll ein aktiver Beitrag zur Aufarbeitung geleistet werden. So gibt es einen großen Bestand aus 5.500 Schülerakten, zu denen es in den ersten Monaten nach der Übernahme vermehrt Anfragen von ehemaligen Schülerinnen und Schülern sowie von Forschenden gab.
Das Gustav-Wyneken-Archiv im Archiv der deutschen Jugendbewegung
Dr. Susanne Rappe-Weber, Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein, sprach über den Nachlass von Gustav Wyneken. Der deutsche Reformpädagoge und Gründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf vermachte seinen Nachlass dem Archiv der deutschen Jugendbewegung. Als Schulleiter wurde Wyneken des sexuellen Kindesmissbrauchs beschuldigt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, daraufhin musste er die Schule verlassen. Das Wissen über die Anschuldigungen und die abwertenden Darstellungen von jugendlichen Zeugen, etwa in seiner Schrift „Eros“, hat die deutsche Erziehungswissenschaft lange nicht davon abgehalten, ihn zu den Klassikern zu zählen.
Meine Schülerakte und ich
Max Mehrick, ehemaliger Schüler einer privaten Internatsschule in Hessen und Betroffener von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend, beteiligt sich an der Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch. Max Mehrick referierte über die Schwierigkeiten und seine Wünsche im Umgang mit seiner Schülerakte.
Die Akte sei Teil des Missbrauchs, die die Machtausübung des Täters oder der Täter weiterhin unterstützt und die Selbstbestimmung und Würde des inzwischen erwachsenen Betroffenen weiterhin untergräbt. Das Entwürdigende bleibt mit der Akte weiterhin archiviert.
Über Möglichkeiten, eine eigene Stellungnahme des Betroffenen zur Akte hinzuzufügen oder einen generellen Hinweis zu geben auf die Besonderheiten der Schülerakten, die auch zum Schutz von Tätern geschrieben wurden, wurde rege diskutiert.
Rede des hessischen Staatsministers für Soziales und Integration
Kai Klose, Staatsminister für Soziales und Integration des Bundeslandes Hessen, machte in seinem Grußwort deutlich, dass die Aufarbeitung der Fälle an der Odenwaldschule lange nicht beendet ist und strukturelles und staatliches Versagen weiterhin beleuchtet werden soll. Die staatliche Aufsicht wurde ihrer Verantwortung für die Kinder und Jugendlichen an der Odenwaldschule nicht gerecht. Der Staat hat hier eine besondere Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft, Kinder und Jugendliche besser zu schützen.
Was bleibt? Bildungshistorische Anfragen an 105 Jahre Odenwaldschule
Prof. Dr. Edith Glaser ist Professorin für Historische Bildungsforschung und formulierte systematische bildungshistorische Anfragen an 105 Jahre Odenwaldschule. 2015 musste die Schule wegen der geringen Neuanmeldungen Insolvenz anmelden und in der Folge den Schulbetrieb einstellen. Die historische Bildungsforschung setzt sich nun mit der Historie der Schule auseinander und stellt die Frage nach der Produktion von Wissen und damit auch der Ausblendung von Themen. Wichtig seien dazu u. a. die Quellen wie Briefe, Zeitschriften und wissenschaftliche Netzwerke.
Studie über sexuelle Gewalt an der Odenwaldschule
Prof. Dr. Heiner Keupp stellte ein Teilprojekt der interdisziplinär angelegten wissenschaftlichen Studie des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung über sexuelle Gewalt an der Odenwaldschule vor. 62 Berichte über sexualisierte Gewalt konnten in der Studie genauer betrachtet werden; darüber hinaus berichteten Betroffene auch über psychische und physische Gewalt. Dabei wurden vor allem die in weiten Teilen fehlenden Grenzen deutlich. Dies betrifft bspw. das Zusammenleben von erwachsenen Betreuern und Schülerinnen und Schülern in Wohngruppen oder den Mythos der „Einvernehmlichkeit“ zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Von der Prävention zur Aufarbeitung
Tamara Luding, Referentin für Vernetzung und Auf- und Ausbau von spezialisierter Fachberatung der Bundeskoordinierungsstelle spezialisierter Fachberatung zum Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKFS), sprach über das Zusammenspiel von Prävention und Aufarbeitung sowie die Relevanz der eigenen Geschichte. Hierbei sei es von höchster Priorität, selbstbestimmt mit der eigenen Betroffenheit umgehen zu können und gleichzeitig z. B. die spezialisierte Fachberatung als Wiedergutmachung nutzen zu können. Dazu braucht es dringend eine kontinuierliche und ausreichende Finanzierung.
Die Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
Prof. Dr. Sabine Andresen, die Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, stellte die bisherige Arbeit der Kommission, die Formate der Aufarbeitung und die weiteren Schritte der Kommission vor. Nach dem Selbstverständnis der Kommission bedeutet Aufarbeitung,
- dass das Unrecht der Vergangenheit Folgen für die Gegenwart und Zukunft hat,
- dass sie einher geht mit Erinnerung und Gedenken,
- dass die Identifikation struktureller Ursachen notwendig ist,
- dass ein politischer Bildungsprozess angestoßen
- und somit ein Beitrag zur Gerechtigkeit geleistet wird.
„Für die Kommission sind betroffene Menschen auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Denn sie legen mit ihren Geschichten ein Zeugnis über das Geschehene ab, um es auch für ein kollektives Gedächtnis zu bewahren.“
Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission
Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe
Dr. Julia Schröder, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim, arbeitet gemeinsam mit Prof. Dr. Wolfgang Schröer und Prof. Dr. Meike Sophia Baader das Wirken von Helmut Kentler in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe auf. Das sogenannte „Kentler-Experiment“ ermöglichte es, dass männliche Jugendliche in die Obhut von strafrechtlich verurteilten pädosexuellen Männern gegeben wurden, auch mit dem Wissen der damaligen Berliner Senatsjugendverwaltung. Erste Schritte bei der Aufarbeitung zu Kentlers Wirken sind bereits erfolgt. Bisher stand die Person Helmut Kentler im Mittelpunkt der Aufarbeitung; die Hildesheimer Forscherinnen und Forscher möchten indes die Perspektive der Betroffenen beleuchten und die Pflegekinderhilfe näher betrachten. Noch zu klären ist, wo und welche Akten vorhanden sind, die Aufschluss über das „Kentler-Experiment“ geben können.
Resümee und offene Fragen
Prof. Dr. Sabine Andresen übernahm das Schlusswort der Veranstaltung. Das Ziel, ein kollektives Gedächtnis zu bewahren und Zeugnis über die Vergangenheit abzulegen, steht nicht immer im Einklang mit der Wahrung von Persönlichkeitsrechten. Auch müssen die Ängste und Wünsche der Betroffenen ernst genommen werden.
Sie schloss die Veranstaltung mit dringenden Fragen für die Archive und die Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch: Was ist eine Akte und was beinhaltet sie? Sind Archive vertrauenswürdige Orte, wenn es um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geht? Kann man der Wissenschaft und ihrem Umgang mit den Daten vertrauen? Und ist es besser Akten zu löschen oder diese pseudonymisiert an ein Archiv zu geben?