Sexueller Missbrauch und Menschen mit Einwanderungsgeschichte: Die zwölften Werkstattgespräche


10.11.2023 - Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat sich den Rat von Expert*innen zur Frage eingeholt, wie sie Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte besser erreichen kann. Hintergrund ist, dass sich deutlich weniger Menschen mit Einwanderungsgeschichte bei der Kommission melden, als es dem Bevölkerungsdurchschnitt entspräche. In den zwölften Werkstattgesprächen wurde über mögliche Gründe und Maßnahmen diskutiert.


Kommissionsmitglied Silke Gahleitner betonte zu Beginn, dass die geringe Zahl der Meldungen keineswegs ein Grund zur Beruhigung sei. Aufgrund wissenschaftlicher Studien geht die Kommission davon aus, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in allen Bevölkerungsgruppen relativ gleich häufig vorkommt. Vielmehr liege die Vermutung nahe, dass Betroffene sich aufgrund von Stigmatisierung und Diskriminierungserfahrungen nicht melden. Das gelte ebenso für Meldungen bei der Aufarbeitungskommission wie für das Hilfesystem, also Beratungsstellen, Therapiemöglichkeiten und gesundheitliche Versorgung.

Wie können wir es schaffen, für diese Gruppen besser erreichbar zu sein? Und dass sich alle eingeladen fühlen, sich bei uns zu melden?

Silke Gahleitner

Die Kommission könne stellvertretend für die Gesellschaft Anerkennung geben für das erlittene Unrecht, sagte Barbara Kavemann. Dabei ist der Kommission bewusst, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte eine sehr heterogene Gruppe sind.

Wie können innere Hürden überwunden werden?

Im ersten Panel ging es um die Frage, ob Betroffene aus eingewanderten Familien spezifische Hürden überwinden müssen, um sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend zu offenbaren. Die Anhörungsbeauftragte der Kommission Elif Gencay berichtete, dass unter ihren Klient*innen türkischer und arabischer Herkunft das Thema häufig mit großer Scham besetzt sei, weil über Sexualität in Familien nie geredet wurde. In einem Fall sei eine Familie von ihrer Community ausgegrenzt worden, als sie ihren Sohn bei der Strafanzeige gegen seinen Täter unterstützte. Bei Mädchen spielte bis in Familien der dritten Generation hinein die Jungfräulichkeit eine große Rolle. Es bestehe die Sorge, dass Mädchen „mit einem Makel behaftet“ seien, berichtete Gencay aus ihrer Praxis.

Prof. Dr. Jan Ilhan Kızılhan, Professor für soziale Arbeit und Leiter des Instituts für transkulturelle Gesundheitsforschung der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, bestätigte diese Beobachtungen aus seiner Arbeit als Gutachter. In vielen konservativ geprägten Religionszusammenhängen werde aus einer patriarchalen Logik heraus Sexualität tabuisiert.

Sexualität wird immer als Gefahr gesehen, muss geschützt werden, darf nur in einem bestimmten Raum geschehen.

Prof. Dr. Jan Ilhan Kızılhan

Dorothea Zimmermann, Geschäftsführerin von Wildwasser Berlin e.V., informierte über ihre Arbeit mit betroffenen Mädchen und jungen Frauen. Diese stünden genau wie junge Männer unter einem enormen Druck, denn sie befürchteten beim Reden über sexuelle Gewalt eine Stigmatisierung ihrer Community. Auch ein Ausschluss und ein Kontaktabbruch seien häufig die Folge. In diesem Fall seien junge Frauen nicht nur von ihrer Familie, sondern auch von ihrer Herkunftskultur isoliert, was eine große Belastung bedeute. „Manchmal ist es kaum aushalten, wie einsam sich die Mädchen dann fühlen“, bekundete Zimmermann.

Die Expert*innen waren sich einig, dass Zugänge zu teilweise geschlossenen Gemeinschaften nur über kultursensible Mittler*innen möglich seien. Zu beachten seien gegebenenfalls auch eine Gefährdungsanalyse für Betroffene sowie eine gewissenhafte Prüfung von dolmetschenden Personen.

Konferenzraum mit mehreren Personen: Kommissionsmitgliedern und Gästen, am Tisch. Im Hintergrund Videokacheln.

Hürden im Zugang zum Hilfesystem

Im zweiten Panel diskutierten die Betroffene Aylin, die Psychologische Psychotherapeutin und Professorin für Beratungswissenschaften an der Hochschule der Bundesanstalt für Arbeit in Schwerin Prof. Dr. Berrin Özlem Otyakmaz sowie der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Ramazan Karataş, der im Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin tätig ist, über Hürden im Zugang zum Hilfesystem.

Aylin erzählte, dass sie lange nicht gewusst habe, was ihr passiert sei, da es keine Aufklärung gegeben habe und sie als Kind auch nicht ermutigt wurde, ihre eigenen Grenzen aufzuzeigen. Information und Aufklärung, auch in verschiedenen Sprachen, hält sie für sehr wichtig. In ihrer Familie sei weder über interne noch über externe Probleme gesprochen worden.

Prof. Dr. Berrin Özlem Otyakmaz zitierte Studien wie die den aktuellen Bericht des Nationalen Rassismus- und Diskriminierungsmonitors, nach dem Menschen, die als „migrantisch“ gelesen werden, in der Versorgung mit Psychotherapieplätzen deutlich unterrepräsentiert sind. Viele mehrheitsangehörige deutsche Psychotherapeut*innen zögen Patient*innen mit ähnlichem Hintergrund vor. Auf der anderen Seite würden bei gemischten Teams beispielsweise in Beratungsstellen häufig alle Klient*innen mit Einwanderungsgeschichte der einzigen Fachkraft zugeschoben, die ebenfalls eine familiäre Einwanderungsgeschichte habe – selbst wenn eine andere Fachkraft bei einer spezifische Problematik eine eindeutigere Expertise vorweise.

Da es deutlich weniger niedergelassene Psychotherapeut*innen mit familiärer Einwanderungsgeschichte gäbe, seien die Wartezeiten etwa bei türkischsprachigen Psychotherapeut*innen zwei- bis dreimal so lang wie bei mehrheitsangehörigen deutschen Kolleg*innen. Wichtig für Betroffene sei in der Beratung oder Psychotherapie die Möglichkeit, themenabhängig flexibel die deutsche oder eine in der Familie gesprochene Sprache nutzen zu können. Zudem sei es wichtig, dass Psychotherapeut*innen die verschiedenen Facetten einer betroffenen Person, auch ihre rassismusbedingten Ausgrenzungserfahrungen, ernst nähmen und diese in der Psychotherapie und Beratung adäquat adressierten. Oft seien allerdings auch bei mehrheitsangehörigen Berater*innen und Psychotherapeut*innen stereotype kulturalisierende Vorstellungen über Ursachen und Erscheinungsformen von sexuellem Missbrauch in Familien mit Einwanderungsgeschichte vorhanden, die eine Behandlung ungünstig beeinflussten oder sogar verunmöglichten.

Prof. Dr. Berrin Otyakmaz sprach ebenso wie der Kinder- und Jugendlichentherapeut Ramazan Karataş den strukturellen Rassismus in Deutschland an, der für Menschen mit Einwanderungsgeschichte eine Alltagsrealität darstelle. Dies sei eine wesentliche Ursache dafür, dass weniger Fachpersonen im Hilfesystem wie auch in vielen anderen relevanten gesellschaftlichen Institutionen vertreten seien. Nicht um die Klientel mit familiärer Einwanderungsgeschichte zu adressieren, sondern aus Gleichstellungsgründen sollte es selbstverständlich sein, dass Expert*innen die gesellschaftliche Heterogenität widerspiegelnd auch in allen Gremien vertreten seien. Die Teilhabe und Beteiligung auf allen gesellschaftlichen Ebenen sei wichtig. Wenn Menschen als Hilfesuchende und Helfende in den Hilfestrukturen unterrepräsentiert seien, wenn Gremien wie die Kommission nicht heterogen besetzt seien, dann stelle sich die Frage:

Wieso sollten Menschen, die zuvor im Hilfesystem keine respektvolle und adäquate Behandlung erfahren haben, Vertrauen entwickeln gegenüber anderen gesellschaftlichen Institutionen wie der Kommission und ausgerechnet dieser ihre Geschichte erzählen?

Prof. Dr. Berrin Özlem Otyakmaz

Ramazan Karataş regte an, in den Austausch mit Moscheen, Veranstaltungszentren, politischen Vereinen oder Stadtteilmüttern zu gehen. Zudem sollte die Webseite der Kommission in unterschiedliche Sprachen übersetzt werden und ansprechender für Menschen mit Einwanderungsgeschichte gestaltet sein.

Aylin wünschte sich eine bessere sexuelle Aufklärung in der Schule, gerade auch in der Grundschulzeit. Kinder sollten darüber informiert werden, welche Rechte sie haben, dazu gehöre auch das Recht auf ein Leben ohne Gewalt. Ein guter Weg, um Jugendliche zu erreichen, seien soziale Medien.

Das Wichtigste ist, dass egal in welcher Form eine Grenzüberschreitung stattfindet, Kinder das auch äußern können.

Aylin

Öffentlichkeitsarbeit verbessern

Wie die Öffentlichkeitsarbeit der Kommission Menschen mit Diskriminierungserfahrengen besser ansprechen kann, ohne ihnen eine Sonderrolle zu geben, war die zentrale Frage im dritten Panel mit den Gästen Ismahan El-Alaoui vom Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten (UBSKM), Burhan Gözüakça von der Marketingagentur Beys sowie Stefanie Keienburg, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“.

Kampagnen auf bestimmte Zielgruppen, zum Beispiel die türkische Community, zuzuschneiden, sahen alle Gäste als kritisch. Fremdzuschreibungen beinhalteten gesellschaftliche Ein- und Ausschlussmechanismen und förderten so das Gefühl, nicht zur Gesellschaft dazuzugehören. „Personen oder Gruppierungen werden zu „Anderen“ konstruiert, ihnen wird in Bezug zur Dominanzgesellschaft eine Abweichung von der Norm unterstellt und somit gesellschaftliche Teilhabe erschwert. Deshalb fühlen sich jene Menschen nicht angesprochen. Das begünstigt Misstrauen, Unsicherheit und Abwertung“, warnte Ismahan El-Alaoui. Burhan Gözüakça hat in seiner Agentur festgestellt, dass die ausgearbeiteten Inhalte oft über alle Zielgruppen hinweg gleich gut funktionieren.

Es gibt Leute, die sehr spitz auf Zielgruppen Nachrichten bereitstellen. Das war nie unser Ansinnen. Es braucht Wertschätzung vom Absender.

Burhan Gözüakça

Um Werte zu vermitteln, sei es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, wo man die Menschen erreiche. An vielen Menschen türkischer Herkunft gingen klassische Printmedien, deutsches Fernsehen und Radio vorbei, weil ihre Interessen und Lebenswirklichkeit dort nicht vorkommen. Stattdessen würden Feindbilder, wie die des „gefährlichen muslimischen Mannes“ durch mediale Darstellungen weiterhin manifestiert. Am gerechtesten seien noch die sozialen Medien, wo Inhalte technisch einfach übersetzt werden können. Der Agenturinhaber regte an, Zugangsbarrieren zu senken, indem die Kommission Menschen an einer Stelle begegne, wo sie sich wohlfühlen. Dafür sei die Zusammenarbeit mit Partnern wie politischen Vereinen wichtig.

Für das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ war die Netzwerkarbeit ein wichtiger Grundstein, um ihr Angebot bekannt zu machen. Um insbesondere Frauen mit Einwanderungsgeschichte zu erreichen, habe sie Kooperationen aufgebaut u.a. mit der Bundesbeauftragten für Migration, den Wohlfahrtsverbänden, Betreibern von Geflüchtetenunterkünften, Selbstvertretungsorganisationen und teilweise auch Religionsgemeinschaften, berichtete Stefanie Keienburg. Die Netzwerkarbeit sei sehr mühselig. Dass sie sich lohne, beweise aber die hohe Nachfrage nach klassischen Infomaterialien des Hilfetelefons. Allein im Oktober 2023 seien 100.000 Materialien bestellt worden. Auch Polizeidienststellen fragten immer wieder nach, etwa nach dem Flyer, der in 18 Fremdsprachen verfasst ist. In der Darstellung gehe das Hilfetelefon immer mehr weg von einem kulturalisierenden Ansatz, da man die Diversität der Frauen schlicht nicht abbilden könne. Stefanie Keienburg resümierte, dass sie bei der Vermittlung stark auf das Hilfesystem angewiesen seien. So werde der Dolmetschdienst des Hilfetelefons initial weniger von Muttersprachlerinnen selbst angerufen, sondern mehr von Multiplikator*innen wie z.B. Sozialarbeitenden in Flüchtlingsunterkünften. Viele Zugewanderte würden sich im deutschen Hilfesystem zu wenig auskennen, um den Zugang von allein zu finden.

Für Menschen aus der zweiten und dritten Generation sei die Sprache an sich kein Problem, ergänzte Burhan Gözüakça. Dennoch sei darüber nachzudenken, welches Signal mit Angeboten in anderen Sprachen ausgesendet werde. Wichtig sei es, den Menschen den Wert der Anhörung zu vermitteln: „Das übergeordnete Ziel: Was ist das Ergebnis? Was leistet die Kommission für mich? Das wird nicht stark genug kommuniziert.“

Ismahan El-Alaoui fügte hinzu, dass es eine lange Zeit und kontinuierliche Arbeit brauche, um das Vertrauen der Menschen zu erlangen: „Hinsichtlich der Aufarbeitungskommission beginnt dieser wichtige Vertrauensprozess mit der Bereitschaft zur machtkritischen und diskriminierungssensiblen Selbstreflexion. Infolgedessen können Stück für Stück Veränderungsprozesse entstehen, die mich darin befähigen, öffentliche Räume einzunehmen. So erhalte ich von der Kommission das Signal: Ich bin mitgemeint, meine Lebensrealität wird sichtbar und meine Erfahrungen werden anerkannt und wertgeschätzt.“


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