Sexueller Kindesmissbrauch und Schule 3: Die elften Werkstattgespräche


09.11.2022 – Bereits zum dritten Mal hat die Kommission Expertinnen und Experten aus dem Bereich Schule eingeladen, um sich im Rahmen von Werkstattgesprächen zum Thema Sexueller Kindesmissbrauch und Aufarbeitung auszutauschen. Der Fokus lag dieses Mal auf Schulen in freier Trägerschaft / Privatschulen, beispielsweise Waldorf-, evangelische und freie Schulen.


Im Gespräch mit Gästen wurden mehrere spezifische Umstände deutlich, die im Hinblick auf den Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch zu beachten sind. So sind vielfach eine besondere Schulgemeinschaft und kleine Lerngruppen ein Herausstellungsmerkmal von Schulen in freier Trägerschaft; gleichzeitig können die enge Bindung von Lehrerinnen und Lehrern zu Schülerinnen und Schülern, die starke Einbindung der Elternschaft in die Schulgemeinschaft sowie die Förderung charismatischer Lehrerpersönlichkeiten Risikofaktoren sein. Es zeigte sich in der Diskussion, dass eine inhaltliche Begleitung und ein proaktives Handeln durch die staatliche Schulaufsicht kaum vorhanden ist. Nur wenige private Schulen haben bisher Strategien zur Durchsetzung personeller Konsequenzen gegenüber Täterinnen und Tätern, zur Archivierung und zum Datenschutz entwickelt.

Waldorfschulen und sexueller Kindesmissbrauch

Eva Wörner, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, berichtete, dass sich in den vergangenen Jahren viel beim Thema Erarbeitung von Schutzkonzepten getan habe. Den entscheidenden Impuls habe die Aufdeckung der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule gegeben. Im Vorstand des Bundes gibt es eine Beschwerdestelle, 2020 habe ein Forum zu Gewaltprävention und Schutzkonzepten stattgefunden. Im Mai 2022 habe eine außerordentliche Mitgliederversammlung die verpflichtende Einführung von Schutzkonzepten in allen 250 Mitgliedsschulen beschlossen. Grundsätzlich könne der Bund Freier Waldorfschulen jedoch nicht in die Autonomie einzelner Schulen eingreifen. Seit 2022 gebe es auch eine Anlaufstelle für ehemalige Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer, so Wörner.

Prof. Dr. Ulrike Barth, Juniorprofessorin für Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik am Institut für Waldorfpädagogik, informierte über den Umgang mit einem Missbrauchsfall an der Schule, in deren Leitungsteam sie lange war. Der Missbrauchsfall tauchte zwei Mal auf; Ende der 1990er Jahre und um 2010. Als positiv bewertete sie die Begleitung des Interventionsprozesses durch externe Experten, sowie eine transparente Kommunikation gegenüber Kollegium, Eltern- und Schülerschaft.

Nicolas Haaf, Mitglied des Betroffenenrats bei der UBSKM, berichtete aus seiner Sicht als ehemaliger Waldorfschüler. Er erlitt zwar Missbrauch innerhalb der Familie und nicht in der Schule, identifizierte aber damalige Risikopotenziale im Schulkontext. Unter anderem habe es keine Sexualaufklärung gegeben, und es bestand eine große Loyalität und auch persönliche Beziehungen zwischen Eltern und Kollegium. Herr Haaf betonte, dass er die  Entwicklung an den Waldorfschulen seit dem Ende seiner Schulzeit nicht weiter verfolgt hat.

Ich würde mich heutzutage nur an staatliche Institutionen wenden, um etwas zu melden. In meinem Fall kann ich von Schulversagen sprechen.

Nicolas Haaf

Mehrere Mitglieder der Aufarbeitungskommission sahen generell bei privaten Schulen und Internaten, die einen hohen elitären Selbstanspruch besäßen, ein hohes Risiko für Übergriffe.

Grenzen der staatlichen Aufsicht

Im zweiten Panel berichtete die Professorin für Öffentliches Recht Universität Potsdam Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf über Möglichkeiten und Grenzen der staatlichen Aufsicht. Insbesondere sei die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen; 2018/19 seien etwa eine Million Kinder und Jugendliche in Privatschulen unterrichtet worden. Die Träger sind vielfältig, z.B. (Eltern-) Vereine, konfessionelle Gemeinschaften oder Unternehmen. Im Gegensatz zu staatlichen Schulen haben die Bundesländer bei Schulen privater Träger im Grundsatz "nur" eine Rechts- und keine Fachaufsicht. Der Staat muss im Rahmen des Genehmigungsverfahrens allerdings die Gleichwertigkeit privater mit staatlichen Schulen sicherstellen und kann dabei auch Schutzkonzepte zugunsten von Schüler*innen einfordern. Werden diese nicht erfüllt, könne die Erteilung der Privatschulgenehmigung abgelehnt werden. Die aktive Mitwirkung bei oder die Vertuschung von sexuellem Kindesmissbrauch könne zu einem Entzug der Genehmigung führen.

Im Falle beispielsweise von Internaten oder Schulen, an die eine Kindertagesstätte oder Hort angeschlossen sind, gibt es weitere Behörden, die nach Sozialgesetzbuch VIII die Aufsicht führen. Und auch die Schulaufsicht stehe in einem Interessenkonflikt, so Brosius-Gersdorf, denn sie sei einerseits die genehmigende Behörde und andererseits beratende Behörde, was mitunter zu Zielkonflikten führen könne.

Schreenshot der Gäste des zweiten Panels (Nachtsheim, Brosius-Gersdorf)

Kommission und Gäste äußerten Bedenken, wie weit die Kontrolle der Schulaufsicht in der Praxis überhaupt umgesetzt werde, und ob nicht auch Hemmungen bestünden, in die Autonomie der Träger einzugreifen. Frau Brosius-Gersdorf betonte, dass der Staat auch jetzt schon nach dem Grundgesetz die Pflicht habe, die Verwirklichung der Grundrechte der Kinder auch an Privatschulen umzusetzen. Die Privatschulen seien mittelbar an die Grundrechte der Schüler*innen und Eltern gebunden. Das dürfe nicht nur punktuell geschehen im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung. Rechtsaufsicht sei auch die laufende Kontrolle der Einhaltung der Genehmigungsvoraussetzungen, z.B. mittels Stichprobenkontrollen.

Bei der Finanzaufsicht kontrollieren die Schulbehörden die Privatschulen fortlaufend. Eine solche Kontrolle ist natürlich erst recht geboten zur Wahrung der Grundrechte der Schüler*innen. Wir reden bei Kindesmissbrauch über Straftaten.

Prof.  Dr. Frauke Brosius-Gersdorf

Ergänzend dazu berichtete Kathrin Nachtsheim von der Managementberatung Ramboll vom unterschiedlichen Umgang mit Fragen der Archivierung und des Datenschutzes, auf die sie während ihrer Recherche für eine Arbeitshilfe zu Aufarbeitung und sexuellem Kindesmissbrauch gestoßen ist. Aus ihrer Sicht sei die Suche nach Akten und Unterlagen für Betroffene an öffentlichen Schulen klarer geregelt als an privaten. Die Hinweise dazu, welche Akten aufzubewahren sind, seien in Schulgesetzen ausdifferenzierter- diese gelten aber nicht für Privatschulen. „Wir heben 35 Jahre alle Prüfungsleistungen und Zeugnisse auf, aber nur ein Jahr persönliche Informationen wie Krankschreibungen. Dabei könnte das bei einer Aufarbeitung wichtig sein“, so die Politikberaterin. Bei der Aufbewahrung der Personalakten von Lehrkräften befänden sich private Träger häufig in einer Grauzone, sagte sie.

Freie und evangelische Schulen

Im abschließenden Panel berichteten Tilman Kern vom Bundesverband der Freien Alternativschulen und Frank Olie von der Evangelischen Schulstiftung Berlin-Brandenburg, sowie Christian Böhm, Leiter der Beratungsstelle Gewaltprävention der Schulbehörde Hamburg. Freie Schulen arbeiten häufig mit sehr kleinen Teams, daher sei es eine große Herausforderung, Dinge anzusprechen, die beobachtet wurden, erläuterte Tilman Kern. Auch vor dem Hintergrund der Personalsituation sei es schwierig, personelle Konsequenzen zu ziehen. Wenn eine Schule sich von einer Lehrkraft trenne, könne sie aufgrund des Datenschutzes die Schüler- und Elternschaft nicht über die Gründe der Kündigung informieren. Dies könne zu Konflikten führen. Gleichzeitig sei die gekündigte Person frei, bei einem anderen Träger erneut anzuheuern, sofern die Vorwürfe nicht im polizeilichen Führungszeugnis festgehalten wurden.

Für Frank Olie ist das Thema sexueller Missbrauch ein Schulentwicklungsthema. Dazu gehöre es, Hierarchien abzubauen und eine Atmosphäre der Gesprächskultur und offenen Klassenräume zu gestalten. Er berichtete von zahlreichen Maßnahmen innerhalb der evangelischen Kirche, um Schutzkonzepte zu erstellen sowie Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Fälle sexualisierter Gewalt zu etablieren. Allerdings hätten sich bisher noch keine erwachsenen Betroffenen bei der evangelischen Schulstiftung gemeldet, um über Fälle sexuellen Missbrauchs zu berichten.

Screenshot von Herrn Kern, Herrn Olie und Herrn Böhm

Christian Böhm berichtete aus Hamburg, dass seine Beratungsstelle mit 20 Mitarbeitenden auch von Schulen in freier Trägerschaft rege in Anspruch genommen werde. Das betreffe etwa die Erarbeitung von Schutzkonzepten, Fortbildung und Prävention, aber auch Gewaltvorfälle und die Krisenintervention. Insgesamt sei das System Schule sehr schwergängig, und es vergehe viel Zeit, bis alle Akteurinnen und Akteure erreicht würden. Für die Aufarbeitung existierten derzeit keine Strukturen, ob Aufarbeitung stattfinde, hänge immer noch von Einzelpersonen ab. Klare Vorgaben zur Aufarbeitung auch in Schulen sind aber aus Sicht der Kommission notwendig.

Allein die Tatsache, dass man ein Schutzkonzept hat, reicht nicht aus. Vorangehen muss eine Risikoanalyse, also in die Tiefe gebohrt werden. Das tut weh, aber anders kommt man nicht zu einer wirksamen Prävention.

Dr. Christine Bergmann

In der abschließenden Betrachtung hielten es mehrere Kommissionsmitglieder für wichtig, das Nähe-Distanz-Verhältnis an Schulen in freier Trägerschaft kritisch zu reflektieren. Auch eine gewisse Selbstgenügsamkeit und Abschottung nach außen könne zu einem Risikofaktor werden. Die Rolle der Schulaufsicht müsse ebenfalls hinterfragt werden. An einigen Stellen sahen die Teilnehmenden des Werkstattgesprächs eine Tendenz von Schulen zur „Flucht in die Prävention“. Die Kommission war sich einig, dass eine Aufarbeitung von Fällen in der Vergangenheit auch an Schulen in privater Trägerschaft nötig sei, um die Ergebnisse in eine Risikoanalyse einfließen zu lassen.


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