Fallstudie zur Arbeit der Jugendämter bei sexuellem Kindesmissbrauch veröffentlicht


Berlin, 12.12.2023 - Betroffene und Angehörige haben der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs immer wieder geschildert, wie sie das Handeln des Jugendamts erlebt haben. Die Kommission hat diese Berichte wissenschaftlich auswerten lassen. Ergänzend wurden dazugehörige Jugendamtsakten analysiert und mit langjährigen Expert*innen aus der Fachpraxis vertiefende Interviews geführt. Die Ergebnisse werden heute in einer Studie veröffentlicht.


Kindern und Jugendlichen, die sexualisierte Gewalt erfahren, muss schnell und wirksam geholfen werden. Dafür ist das Wissen über sexuellen Kindesmissbrauch bei den Fachkräften in Jugendämtern entscheidend. Die Erfahrungen von Betroffenen geben wertvolle Hinweise zur Verbesserung von Schutz und Hilfe. Jugendämter sollten auch erwachsene Betroffene unterstützen und ihnen Akteneinsicht ermöglichen.

„Uns liegen einerseits Schilderungen von guter Fachpraxis und positiven Hilfeverläufen vor, die ermutigen und bestärken, weil Kinder aus der Gewaltsituation befreit wurden. Andererseits werden klare Defizite deutlich, aus denen dringend gelernt werden muss“, appelliert Prof. Dr. Barbara Kavemann, Mitglied der Aufarbeitungskommission.

Kinder und Jugendliche können sich bei sexualisierter Gewalt nicht selbst schützen. Dies zu tun und ihnen zu helfen, ist eine zentrale Aufgabe von Jugendämtern.

Barbara Kavemann

Wenn dies nicht gelinge, seien die Betroffenen zum Teil jahrelang der gewaltvollen Situation ausgesetzt mit weitreichenden Folgen für ihr Leben.

Mögliche Hilfe blieb aus

Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist, dass in einigen Fällen Hilfe möglich gewesen wäre, aber ausgeblieben ist. Betroffene Kinder oder Jugendliche waren teilweise grundsätzlich bereit, sich einer Fachkraft des Jugendamtes anzuvertrauen. Es gelang aber nicht, das dafür notwendige Vertrauen aufzubauen: Dazu hätte es Einzelgespräche ohne die Eltern, einen geschützten Rahmen und mehr Zeit für Gespräche gebraucht. Zudem war für viele Betroffene das Jugendamt erst einmal mit Angst verbunden. Diese Ängste waren geprägt durch Medienberichte, durch das soziale Umfeld, aber auch durch Täter bzw. Täterinnen mit dem Ziel, bewusst eine Drohkulisse aufzubauen: Kinder würden aus den Familien genommen und sie kämen ins Heim, wenn sie mit dem Jugendamt sprechen.

Auch ein Mangel an fachlichen Kenntnissen war ausschlaggebend dafür, dass Fälle sexualisierter Gewalt nicht erkannt wurden und Kindern und Jugendlichen nicht geholfen wurde. Umfragen mit Fachkräften in Jugendämtern sowie aktuelle Fallanalysen deuten darauf hin, dass diese Probleme auch heute noch bestehen. Fachkräfte müssen kontinuierlich dazu befähigt werden, die Situation eines betroffenen Kindes zu erkennen und richtig einzuschätzen, um gegebenenfalls schützend eingreifen zu können.
So sind nach Einschätzung von Dr. Thomas Meysen, Co-Autor der Studie, Jugendämter aufgefordert, Kinder und Jugendliche beim Schutzhandeln und in den Hilfeverläufen stärker einzubeziehen.

Der Geheimhaltungsdruck, unter dem von sexueller Gewalt Betroffene stehen, ist besonders hoch. Wenn sich Kinder und Jugendliche selbst an Jugendämter wenden, brauchen Fachkräfte ein Bewusstsein, dass es in diesen Momenten nichts Wichtigeres gibt, als sich ihnen anzunehmen.

Thomas Meysen

Erst mit der Zeit gelinge es vielen von sexueller Gewalt betroffenen Kindern und Jugendlichen, sich anzuvertrauen. Wenn der Schutz gelingt, hätten Kinder und Jugendliche ein feines Gespür dafür, ob sie in den Hilfeverläufen aktiv einbezogen werden oder ob sie in der Kinder- und Jugendhilfe einen erneuten Kontrollverlust erfahren, sagte Meysen.

Jugendämter sollten Betroffene bei der Wahrnehmung ihres Rechts auf Aufarbeitung unterstützen, ihnen Einsicht in ihre Jugendamtsakte gewähren und ihnen, wenn die Betroffenen dies wünschen, die Möglichkeit geben, Fragen zu stellen sowie ihr damaliges Erleben zu schildern. Die Betroffenen haben gegenüber der Aufarbeitungskommission immer wieder deutlich gemacht, wie wichtig für sie der spätere Einblick in ihre Akten ist. Akten sollten daher nach Ablauf von Aufbewahrungsfristen einem Archiv angeboten, die Betroffenen über ihre Akteneinsichtsrechte informiert und sie bei der Sichtung und Auswertung des Akteninhalts begleitet werden.
Ilka Kraugmann, Mitglied im Betroffenenrat bei der UBSKM und Kinder- und Jugendlichentherapeutin: „Betroffene setzen sich in ihrem Leben zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten und oft auch immer wieder mit ihrer gewaltgeprägten Lebensgeschichte auseinander." Es gehe um das Verfügen über die eigene Lebensgeschichte als Teil ihres Rechtes auf individuelle Aufarbeitung.

Der Wunsch nach Akteneinsicht kann dem Bedürfnis entsprechen, biografische Lücken zu schließen, Erinnerungen abzugleichen und gewichtige Fragen zu dieser bedeutsamen Lebensphase zu beantworten.

Ilka Kraugmann

Die Studie wird ergänzt durch vielfältige Empfehlungen für Rahmenbedingungen, die es braucht, damit Jugendämter schützend und unterstützend tätig werden und Hilfeverläufe verbessern können.

Zur Studie


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