Fachgespräch Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR - Menschen mit Behinderungen


18.02.2025 – Rund 100 Gäste haben in Potsdam die dritte regionale Veranstaltung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der DDR besucht. Im Zentrum der Veranstaltung in Kooperation mit der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur in Brandenburg standen Menschen mit Behinderungen.


Zur Meldung in Leichter Sprache hier klicken

In mehreren Panels und Vorträgen beschäftigten sich die eingeladenen Expert*innen mit den speziellen Umständen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in der DDR. Thematisiert wurde das mehrfache Schweigen, Erfahrungen mit der Aufarbeitung sowie Unterstützung und Prävention heute. Dabei sprachen auch drei Betroffene über ihre Erfahrungen.

Es wurde klar, dass sexueller Kindesmissbrauch in Behinderteneinrichtungen der DDR noch besser aufgearbeitet werden muss. Viele Menschen mit Behinderungen wurden in der DDR im frühen Kindheitsalter von ihren Eltern und engen Bezugspersonen getrennt und in Einrichtungen der Behindertenhilfe, wie Internaten und Heimen, untergebracht. Betroffene schildern, dass sie in wesentlichen Entwicklungsphasen ihres Lebens dort weder Schutz noch Förderung erhielten. Stattdessen waren sie Vernachlässigung sowie physischen, psychischen und sexualisierten Grenzüberschreitungen ausgesetzt. Den gewaltvollen alltäglichen Umgang und das bewusst vermittelte Gefühl der Minderwertigkeit und Wertlosigkeit durch die Betreuungspersonen haben sie als „Normalität“ erlebt.

Die Vorsitzende der Kommission, Julia Gebrande, steht an einem Redepult und spricht zum Publikum.

Die Vorsitzende der Kommission, Julia Gebrande, wies darauf hin, dass es für die Betroffenen in der DDR in der Regel nicht möglich war, über ihre Erfahrungen zu sprechen oder sich Hilfe zu holen, da es sexuellen Missbrauch offiziell nicht gab. Professionelle Beratung, Begleitung oder Therapie für Betroffene waren entsprechend kaum vorhanden.

Die Tabuisierung des sexuellen Missbrauchs in der DDR wirkt bis heute nach.

Julia Gebrande

Auf diese Zusammenhänge wiesen auch Dr. Maria Nooke, die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur und die Präsidentin des Landtags Brandenburg, Prof. Dr. Ulrike Liedtke hin.

Mir liegt sehr daran, dass weiterhin öffentlich darüber aufgeklärt wird, wieviel Leid und Unrecht in der DDR an jungen Menschen mit Behinderungen in professionellen Einrichtungen verübt wurde.

Dr. Maria Nooke

Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung, Jürgen Dusel, betonte zudem Probleme bei der Aufarbeitung. Viele DDR-Akten zum Thema seien verschwunden oder schwer auffindbar. Die noch vorhandenen Akten müssten daher gesichert, Täter*innen identifiziert und Strukturen aufgedeckt werden. Der Medizinhistoriker Prof. Dr. Heiner Fangerau von der Universität Düsseldorf konnte daran gut anschließen und einen Überblick über die Herausforderungen in der Forschung zu sexualisierter Gewalt in DDR-Institutionen geben. Er betonte, dass die Dokumentation von Fällen in der DDR sehr lückenhaft sei. Das Thema sei von „Täuschen, Tarnen, Vertuschen“ geprägt gewesen. Es sei wichtig, in Unterlagen auch zwischen den Zeilen zu lesen.

Zwei Frauen und ein Mann sitzen auf einer Bühne im Halbkreis. Der Mann hält ein Mirkofon in der Hand und spricht.

Im Anschluss berichtete der Erfahrungsexperte Ingo L. über sexualisierte Gewalt, die er als Kind in der DDR durch einen Täter aus dem sozialen Umfeld erfahren hat. Die Erinnerungen an den Missbrauch kamen bei ihm in der Coronazeit wieder hoch, eine Strafverfolgung war zu diesem Zeitpunkt wegen Verjährung nicht mehr möglich, was Ingo sehr frustrierte. Aus diesem Grund entschloss er sich, ein Buch in Leichter Sprache über die erfahrene Gewalt zu schreiben, um andere Betroffene zu informieren und zu ermutigen.

Friedemann Muhme aus dem Büro der Landesbeauftragten machte mit Zitaten von Betroffenen, die sich an die Stiftung Anerkennung und Hilfe gewandt haben, deutlich, welche Lebenschancen Menschen mit Behinderungen in der DDR durch die sexualisierte Gewalt, die Vertuschung und mangelnde Anerkennung verwehrt wurden. Burkhard Bley, der Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, berichtete eindrucksvoll über die Aufarbeitung von Unrecht in DDR-Gehörlosenschulen. Die Vorstellung der Ergebnisse in einer Gehörlosenschule in Güstrow wurde vom weiterhin dort angestellten Personal durchaus kritisch aufgenommen.

Auch Personen aus dem Publikum berichteten in Redebeiträgen mehrfach von Schwierigkeiten, mit dem Personal von Behinderteneinrichtungen über Menschenrechtsverletzungen ins Gespräch zu gehen – insbesondere, wenn die angesprochenen Personen bereits zu DDR-Zeiten in den Einrichtungen arbeiteten. In diesen Fällen gebe es in den Einrichtungen eine starke Abwehrhaltung. Den Eindruck bestätigte Heike Mann von der Fachstelle zur Prävention sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Shukura in Dresden. Die Mitarbeitenden dort engagieren sich auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten und beraten Einrichtungen im Hinblick auf Schutzkonzepte. Ihnen begegnet diese Abwehr oft oder aber auch die gegenteilige Haltung: Viele Mitarbeitende in Behinderteneinrichtungen bewegten sich in einer „Harmoniesuppe“, seien der Überzeugung, dass alle sich „für die gute Sache“ einsetzen und Gewalt bei ihnen daher nicht vorkomme. Auch diese Haltung verhindere eine Aufarbeitung von geschehenem Unrecht.

Drei Frauen sitzen im Halbkreis und sprechen miteinander.

Die beiden gehörlosen Gäste Sabine Helbig-Ruppl und Anett Zimmermann machten auf zwei Panels deutlich, wie sehr die Strukturen in der DDR, aber auch in den Nachwendejahren sexualisierte Gewalt ermöglicht haben. Sie benannten zahlreiche Faktoren, die es Tätern und Täterinnen leicht gemacht haben, taube Kinder und Jugendliche zu missbrauchen:

Es gab eine starke Gefährdung Hörgeschädigter durch den Entzug der Muttersprache [Gebärdensprache], den Zwang zum Oralismus, die Trennung von Bezugspersonen in wesentlichen Entwicklungsphasen sowie Abhängigkeit und Verlustangst.

Anett Zimmermann

Die mangelnde Unterstützung sahen beide ganz konkret im Zusammenhang mit dem politischen System der DDR, was viele Menschen mit Behinderungen bis heute daran gehindert hat, sexualisierte Gewalt zu offenbaren und aufzuarbeiten.

Hilfen hätten demokratische Vielfalt vorausgesetzt, dass gesellschaftliche Defizite zum öffentlichen Thema gemacht werden. Aber das ganze System handelte im Überlebensmodus. Damit konnten die Traumata der Kriegszeit übertragen und fortgesetzt werden.

Sabine Helbig-Ruppl

Beide wünschen sich eine viel stärkere politische und historische Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen und eine Anerkennung des erlebten Unrechts in Form von gesellschaftlicher Aufarbeitung. Unsichtbares müsse sichtbar gemacht und auch die Gebärdensprache in weiten Teilen der Gesellschaft stärker umgesetzt werden. Notwendig sei auch eine Unterstützung zur individuellen Aufarbeitung der Traumata und eine Entschädigung, um die Folgen der erfahrenen und zugeschriebenen „Minderwertigkeit“ teilweise zu kompensieren.

Mehrere Personen stehen zusammen. Eine Person trängt eine Stofftasche. Daruaf ist eine Deutschlandkarte in Lila abgebildet und der Schriftzug "Geschichen die zählen".

Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, forderte zum Abschluss der Veranstaltung, dass Unterstützungsangebote wie Fachberatungsstellen barrierefrei zugänglich sein müssten. Fachkräfte in Einrichtungen der Behindertenhilfe, in Kliniken, Werkstätten und Beratungsstellen sollten sensibilisiert und fortgebildet werden in Bezug auf die besonderen Risikofaktoren und Herausforderungen, die Betroffene mit Behinderungen erleben. Dr. Maria Nooke verband mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch den Deutschen Bundestag am 31. Januar 2025 die Hoffnung, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt gestärkt wird und Betroffene überall in der Gesellschaft Gehör finden.

Das Fachgespräch ist Teil einer Veranstaltungsreihe der Aufarbeitungskommission, zu sexuellem Kindesmissbrauch in der DDR. Es haben bereits zwei Regionalgespräche in Schwerin und Magdeburg mit den Schwerpunkten Sport und Totale Institutionen stattgefunden. Die Reihe soll fortgesetzt werden.


Zurück zur Übersicht

Webanalyse / Datenerfassung

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs möchte ihre Website fortlaufend verbessern. Dazu wird um Ihre Einwilligung in die statistische Erfassung von Nutzungsinformationen gebeten. Die Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden.

Mehr Informationen