Erstmals Standards für Betroffenenbeteiligung bei institutionellen Aufarbeitungsprozessen vorgelegt
27.06.2025 - Immer mehr Institutionen, die zu Tatorten von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen wurden, beginnen damit, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und Aufarbeitungsprozesse anzustoßen. Erstmals hat eine Gruppe von rund 150 Betroffenen und Aufarbeitenden gemeinsam mit der Aufarbeitungskommission des Bundes, der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sowie dem Betroffenenrat Standards zur Betroffenenbeteiligung in institutionellen Kontexten erarbeitet.
Die Standards wurden in einem 56-seitigen Dokument niedergeschrieben, das kostenlos heruntergeladen werden kann. Für einen ersten Überblick ist auch eine kurze Version erhältlich. Damit gibt es erstmals ein breit abgestimmtes Regelwerk für verbindliche Beteiligungsprozesse. Die Standards beschreiben konkret, wie ein Aufarbeitungsprozess von Anfang an unter Beteiligung Betroffener vorbereitet, umgesetzt und abgeschlossen werden kann – gemeinsam und gleichberechtigt. Damit wird ein Perspektivwechsel eingeleitet, denn nicht mehr die Institutionen alleine definieren den Rahmen der Aufarbeitung.
Über 150 Personen haben sich zwei Jahre lang an diesem Prozess beteiligt – darunter Betroffene sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend, Vertreter*innen von Institutionen sowie unabhängige Aufarbeitungsexpert*innen. Auf Initiative der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen (UBSKM), Kerstin Claus, des Betroffenenrates bei der UBSKM und der Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs haben alle gemeinsam den Praxisleitfaden erarbeitet. Die Vorsitzende der Kommission, Prof. Dr. Julia Gebrande, stellte heraus, dass bei jedem Aufarbeitungsprozess eine Institution Verantwortung für das Unrecht übernimmt, das Betroffene erleben mussten. Das sei kein leichter Weg.
Unser Hauptziel im Dialogprozess war, dass Institutionen die Expertise der Betroffenen bei der Aufarbeitung besser einbeziehen. Die Erfahrungen, die sie machen mussten, können dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche zukünftig besser geschützt werden.
Julia Gebrande
Kerstin Claus betonte, dass der Dialogprozess gezeigt habe, dass es möglich sei, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln und damit die Qualität von Aufarbeitung entscheidend zu verbessern.
Der Dialogprozess hat Muster durchbrochen. Betroffene zu beteiligen, ihre Expertise anzuerkennen und Ihnen die Hoheit über den Umgang mit der eigenen Geschichte zu geben – Politik, Forschung und Institutionen setzen das noch viel zu wenig um.
Kerstin Claus
Die Bundesbeauftragte dankte allen Personen, die sich auf diesen Prozess eingelassen haben und zwei Jahre lang dabeigeblieben sind. Die gemeinsam erarbeiteten Handlungsempfehlungen markierten einen bedeutenden Schritt hin zu verbindlicher und verantwortungsvoller Aufarbeitung. Damit könnten sich Institutionen wie zum Beispiel Schulen, Kirchen und Vereine auf den Weg machen.
Auch mehrere Mitglieder des Betroffenenrates bei der UBSKM haben über zwei Jahre den Dialogprozess mit konzipiert, organisiert und durchgeführt. Mit großem Respekt vor allen Teilnehmenden blickten sie auf eine ausgesprochen intensive Zeit zurück. Sie seien beeindruckt und stolz, dass es allen Beteiligten gemeinsam gelungen sei, den Arbeitsprozess über zwei Jahre zu führen. Die Betroffenen hätten sich mit ihrer vielfältigen wie wertvollen Expertise dem Dialog mit Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche Gewalterfahrungen gemacht haben, offensiv gestellt. Das sei zuweilen sehr herausfordernd gewesen, aber immer respektvoll.
Wir wünschen uns, dass Institutionen vom Mut der Betroffenen lernen und mit dem Fundament der vorliegenden Standards zur Betroffenenbeteiligung offensiv notwendige Prozesse der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gemeinsam mit Betroffenen angehen.