Die Kommissionsmitglieder stellen sich vor: Ulrike Hoffmann


22.01.2024 – Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, hat Dr. Ulrike Hoffmann als neues ehrenamtliches Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs berufen. Sie folgt auf Dr. Christine Bergmann, die ihr Ehrenamt im Dezember niederlegte. Im Interview spricht Ulrike Hoffmann über ihre erste Begegnung mit dem Thema sexualisierte Gewalt und Schwerpunkte, die sie in der Kommission verfolgen will.


Frau Hoffmann, wie haben Sie die Arbeit der Kommission bisher von außen wahrgenommen?
Ich arbeite in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm und wir haben seit vielen Jahren einen starken Schwerpunkt im Thema Kinderschutz. Ich leite eine Arbeitsgruppe, die sich mit E-Learning beschäftigt. Wir entwickeln Online-Kurse zu verschiedenen Themen des Kinderschutzes, unter anderem geht es auch um sexualisierte Gewalt. In dem Kontext verfolgen wir stark, was sich in der Fachwelt tut, auch was Betroffene einbringen können. Die Erkenntnisse der Kommission, z.B. zu Risikofaktoren in Familien, aber auch zu Lebenswegen und dem Hilfebedarf von Betroffenen sind wichtige Inhalte, die wir in die Online-Kurse einbinden. Schon aus dem Grund verfolgen wir seit Jahren, was die Kommission macht und zu welchen verschiedenen Themen sie arbeitet.

Porträt Ulrike Hoffmann, Mitglied Aufarbeitungskommission

Wie sind Sie das erste Mal mit dem Thema sexualisierte Gewalt in Berührung gekommen? Wann haben Sie beschlossen, sich dem Thema wissenschaftlich zu widmen?
Ich habe lange Zeit als Pflegekraft gearbeitet und ab 2006 neben dem Job dann Sozialwissenschaften studiert. Meine Abschlussarbeit schrieb ich über die öffentliche Debatte über sexuellen Missbrauch in Institutionen 2010. Das hat mich damals sehr interessiert, ich habe zu der Zeit auch ein Praktikum im Jugendamt in Karlsruhe gemacht, wo es Berührungspunkte zu der Thematik gab. In meiner Abschlussarbeit habe ich analysiert, wie das Thema 2010 in den Printmedien diskutiert wurde., z.B. welche Argumente fielen, wie Betroffene und Täter beschrieben wurden und auch die strukturellen Ursachen, warum es zu den Übergriffen kam, eingeordnet wurden. Meine Arbeit kam zu Prof. Fegert nach Ulm, und es ergab sich für mich die Möglichkeit, dort an der Entwicklung eines Online-Kurses zu sexuellem Missbrauch mitzuarbeiten. An dem Thema bin ich dann drangeblieben und wir haben später auch Online-Kurse zu anderen Kinderschutzthemen entwickelt, zum Beispiel zu Schutzkonzepten, zu medizinischem Kinderschutz und zu Traumapädagogik.

Würden Sie sagen, dass sexueller Kindesmissbrauch in den Medien heute anders dargestellt wird als 2010?
Ein Ergebnis meiner Analyse war, dass 2010 zum ersten Mal stark die sexualisierte Gewalt an Jungen thematisiert wurde. Es gab ja viele männliche Betroffene, die sich gemeldet haben - am Canisius-Kolleg und anderen katholischen Einrichtungen oder der Odenwaldschule. Das war damals neu in der öffentlichen Debatte. Was sich aus meiner Sicht verändert hat, ist, dass es eine größere Sensibilisierung gibt. Sexualisierte Gewalt ist viel häufiger Thema in den Medien, viel stärker auch durch Kampagnen z.B. von der Unabhängigen Beauftragten (UBSKM) publik. Auch in Filmen und der Literatur ist es präsenter, es ist kein Thema mehr, welches man wegdiskutieren kann. Außerdem gibt es heute Strukturen wie die UBSKM und ihren Arbeitsstab, die Aufarbeitungskommission, oder den Betroffenenrat, die dafür sorgen, dass das Thema dauerhaft in der Öffentlichkeit verankert ist. Nichtsdestotrotz erlebe ich immer noch häufig, z.B. in der Lehre, dass Menschen noch nicht viel Wissen haben zum Thema Kinderschutz. Oder dass Institutionen erst jetzt das Thema „für sich entdecken“. Risikofaktoren für Übergriffe zum Beispiel sind vielen Institutionen noch nicht allumfassend bewusst. Sie entwickeln Schutzkonzepte häufig auf äußeren Druck hin, weil es rechtliche Vorgaben gibt oder es einen konkreten Fall in der Institution gab. Da fehlt mir manchmal noch, dass die Menschen sagen: „Das ist ein wichtiges Thema, wir müssen uns damit auseinandersetzen, und es dient auch der Qualitätssicherung.“ Das ist aus meiner Sicht im medizinischen Bereich genauso wichtig wie Hände desinfizieren oder Strahlenschutz. Genauso haben Patient*innen das Recht auf einen gewaltfreien Aufenthalt im Krankenhaus oder in der Pflegeeinrichtung.

Bilden Sie hauptsächlich Fachkräfte aus dem medizinischen Bereich fort?
Ja, da ist mein Fokus. Ich unterrichte zum Beispiel Medizinstudierende an der Uni Ulm. An der dualen Hochschule Baden-Württemberg mache ich ein Seminar zur Gewaltprävention für Studierende verschiedener Pflegestudiengänge und Studierende der Hebammenwissenschaften. Aus meiner Erfahrung als Pflegekraft weiß ich, wie Krankenhäuser funktionieren, wie die alltägliche Arbeit läuft und welche Herausforderung es dort ist, ein Schutzkonzept zu entwickeln. Ich bin auch aktiv an Schutzkonzeptentwicklung in der Klinik, in der ich arbeite, beteiligt. Das ist ein fortlaufender Prozess, wo wir kontinuierlich dran sind, Elemente von Schutzkonzepten zu überarbeiten. Aktuell zum Beispiel das Beschwerdemanagement.

Das Thema Pflege begegnet uns im Gespräch mit Betroffenen immer wieder. Für viele Personen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, ist es ein Problem, im Alter auf Pflege angewiesen zu sein. Das Personal ist häufig nicht sensibilisiert dafür. Was kann die Aufarbeitung in diesem Bereich leisten?
Das Thema Gewalt ist in den Ausbildungslehrplänen im Pflegebereich sehr wenig präsent. Pflege ist ein Riesenthema, es gibt einen unglaublichen Personalmangel. Gewalt ist wenig sichtbar, denken Sie nur an viele Altenheime, auch im Rückblick auf Corona. Da konnten Angehörige lange Zeit ihre Familienmitglieder nicht besuchen, und es fand keine Kontrolle von außen statt. Wir wissen auch, dass Patient*innen, die sehr einsam sind und keine Angehörigen haben, die mal nach ihnen schauen, ein höheres Risiko haben, Gewalt zu erfahren. Es herrscht eine große Abhängigkeit von der Pflegekraft. Und natürlich auch von anderen medizinischen Fachkräften. Den Menschen fällt es schwer, sich zu beschweren, weil sie denken, sie würden danach nicht mehr so gut versorgt. In vielen Bereichen der Medizin und Pflege gibt es auch kein Beschwerdemanagement, keine Ombudspersonen. Andererseits muss man auch strukturelle Faktoren mit in den Blick nehmen, die personelle Besetzung in vielen Pflegeeinrichtungen ist schlecht. Das ist ein Risikofaktor dafür, dass es zu Gewalt kommt, einfach auch aus einer Überforderung heraus. Aufarbeitung heißt für mich auch, dass aus Fehlern gelernt wird, man hinterher mehr weiß über Risikofaktoren und -situationen. Im medizinischen Bereich gibt es aber erst sehr wenige Aufarbeitungsprojekte. Da muss es noch mehr Forschung geben, um über diese Aspekte auch mehr zu wissen.

Sehr wichtig ist mir, dass die Empfehlungen der Kommission für die Praxis gut umgesetzt werden können

Und was meinen Sie zur Sensibilisierung von Pflegekräften im Umgang mit traumatisierten Patient*innen?
Eigentlich müssen Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen traumasensible Institutionen sein. Das betrifft zum Beispiel alte Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend Gewalt in Institutionen erlebt haben, und nun daran erinnert werden durch erneute Pflegebedürftigkeit. Ich versuche, meine Studierenden immer dafür zu sensibilisieren, dass sie mit gewaltbetroffenen Personen in Kontakt kommen können, egal, in welchem Bereich sie arbeiten. Man darf, gerade wenn es um alte Menschen geht, auch nicht die an Demenz erkrankten Menschen vergessen, die ohnehin Mühe haben, Pflegehandlungen in einen Kontext zu bringen. Diese verstehen vielleicht überhaupt nicht, was mit ihnen gemacht wird, und entwickeln dann große Ängste. Das in den Blick zu nehmen und zu überlegen, „Warum hat dieser Patient jetzt Ängste oder wehrt sich vehement gegen Pflegemaßnahmen?“ oder auch mit den Personen oder ihren Angehörigen ins Gespräch zu kommen, auf dem Gebiet kann noch einiges getan werden. Da brauchen wir auch mehr niedrigschwellige Informationsmaterialien.

Kommen unsere Publikationen bei den Pflegekräften an, die mit einer traumatisierten Person im Alltag in Kontakt ist?
Aus meiner Sicht vermutlich nicht. Es wird nicht jede Fachkraft jeden Bericht der Kommission lesen und daraus Schlüsse für ihre Arbeit ziehen, das ist illusorisch, das wird nicht funktionieren. Es funktioniert ja vielleicht, dass Fachzeitschriften gelesen werden, die im eigenen Bereich wichtig sind. Ich glaube, hier braucht es noch mehr Aufbereitung, eine Übersetzungsleistung sozusagen und dass man viel in Fort- und Weiterbildung, in Ausbildung reinspiegeln sollte. Zum Beispiel in die Ausbildung von Pflegefachkräften, ins Medizin- oder Lehramtsstudium oder der Sozialarbeit. Ich denke, hier kann ich meine Erkenntnisse aus den Online-Fortbildungen gut einbringen.

Auch mit dem Kontext DDR werden Sie sich in der Kommission beschäftigen. Haben Sie da Schwerpunkte?
Es wird erstmal darum gehen, die Fäden aufzunehmen von dem, was schon gemacht worden ist. Dazu gehören gerade die im letzten Jahr durchgeführten regionalen Fachgespräche zu den Themen Sport und Totale Institutionen. Wir müssen uns die Spezifika der DDR weiter anschauen, auch im medizinischen Kontext, aber auch z.B. Freizeiteinrichtungen. Da möchte ich mich mit meiner Vorgängerin Christine Bergmann noch einmal zu austauschen.

Was ist Ihnen im Zusammenhang mit Aufarbeitung wichtig?
Sehr wichtig ist mir der Praxistransfer. Dass die Empfehlungen der Kommission, all die wichtigen Erkenntnisse für die Praxis gut umgesetzt werden können, ist mein großer Wunsch. Ich freue mich aber auch sehr auf die Chance, mit tollen Kolleg*innen zusammenzuarbeiten und mit ihnen gemeinsam Dinge voranzubringen.

Das Interview führte Sonja Gerth


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