6. Öffentliches Hearing zu Sexuellem Kindesmissbrauch in der Heimerziehung
17.06.2025 – Rund 160 Menschen haben in Berlin am 6. Öffentlichen Hearing der Aufarbeitungskommission zu sexuellem Kindesmissbrauch in der Heimerziehung teilgenommen. Knapp 1.000 Mal wurde an diesem Tag auf den Livestream von der Veranstaltung zugegriffen, die auch in Deutsche Gebärdensprache übersetzt wurde.

In fünf Panels und in mehreren Grußworten und Vorträgen griffen Betroffene, Aufarbeitende, Fachkräfte und Mitglieder der Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs die zahlreichen Gewalttaten auf, die seit 1945 in Heimen in Ost- und Westdeutschland verübt wurden. Seit 2016 haben der Kommission 149 Betroffene über sexualisierte und viele andere Formen von Gewalt in Heimen berichtet.
Nach der Begrüßung der Gäste vor Ort und an den Computerbildschirmen durch die Vorsitzende der Kommission Prof. Dr. Julia Gebrande und die Parlamentarische Staatssekretärin im BMBFSFJ, Mareike Wulf, führten die Kommissionsmitglieder Prof. Dr. Silke Gahleitner und Prof. Dr. Heiner Keupp in die Thematik ein. Sie machten darauf aufmerksam, dass die Mitarbeitenden in Heimen sowie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nach 1945 von nationalsozialistischem, rassistischem Gedankengut geprägt waren und gerade auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe das Bild der Euthanasie nicht verschwunden gewesen sei. Die Aufarbeitung der Verbrechen sei von den Betroffenen oft gegen den Strom angestoßen worden und noch längst nicht abgeschlossen. Eine angemessene Erinnerungskultur, beispielsweise mit einer offiziellen Entschuldigung im Parlament, fehle.
Gebrochene Lebensläufe
Im Panel „Heimkindheiten im geteilten Deutschland“ berichtete der Betroffene Ioannis von Gewalterfahrungen in seiner Kindheit und Jugend in westdeutschen Heimen. Corinna Thalheim berichtete über ihre Zeit im Jugendwerkhof Torgau in der DDR. Beide erfuhren dort Gewalt in vielfacher Form, unter anderem Vergewaltigung. In der Selbsthilfegruppe, die Corinna Thalheim gegründet hat und bis heute leitet, konnten und können Menschen, die aufgrund ihrer Biografie sozial isoliert waren, wieder Vertrauen zu anderen aufbauen. Der Jugendwerkhof habe die ehemaligen Insassen gebrochen, und das Stigma über Heimkinder wirke bis heute nach.
Torgau war für die, die das erleben mussten, das waren über 6.000 Jugendliche, lebenslänglich.
Corinna Thalheim
Ioannis musste ab 1945 bis 1965 in mehreren westdeutschen Heimen leben, und unter anderem im evangelischen Erziehungsheim Freistatt sexuelle Gewalt, Folter und Zwangsarbeit erleiden.
Wir waren Zöglinge ohne Wert. Wir mussten zur Zwangsarbeit ins Moor. Der Wärter hat seine Methoden eins zu eins aus dem Nationalsozialismus übernommen, außer es gab keine Hinrichtungen mehr.
Ioannis
Ioannis beklagte, dass der Träger des Erziehungsheims, die Diakonie, durch die Zwangsarbeit der Zöglinge sehr viel Geld erwirtschaftet habe, sich bei der Frage nach Entschädigungszahlungen aber arm rechne.
Im Panel „Erfahrung mit Aufarbeitung“ berichtete Heide Glaesmer von der Universität Leipzig über ihre Arbeit im Testimony-Projekt zu Erfahrungen in DDR-Kinderheimen, sowie Helga Dill vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München zu mehreren Aufarbeitungsstudien, die sie durchgeführt hat. Oft seien die Kinder vom Regen in die Traufe gekommen, informierte Glaesmer. Viele hätten schon in ihren Herkunftsfamilien sexualisierte Gewalt erlitten, seien dann in Heimen aber nicht geschützt worden, sondern weiterem Missbrauch ausgesetzt gewesen. Viele Betroffene hätten ihr Leben lang eine fortgesetzte Unrechtserfahrung gemacht und gar nicht mehr die Erwartung, dass ihnen noch jemand richtig zuhöre oder glaube. Dieser Zustand müsse überwunden werden.
Helga Dill machte noch einmal auf die multiplen Gewalterfahrungen aufmerksam, die ehemalige Heimkinder erleiden mussten. In ihren Befragungen habe ein Drittel über sexualisierte Gewalt berichtet; 80 Prozent über massive körperliche Gewalt. Das seien extrem hohe Werte im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt. Auch die psychische Gewalt durch die Mitarbeitenden sei massiv gewesen.
Das ist Folter gewesen und man kann sich nicht vorstellen, dass Pädagogen-Gehirne sich so etwas ausgedacht haben. Helga Dill
Helga Dill konstatierte, dass sich die kirchlichen Träger ihrer Verantwortung bisher nur „sehr halbherzig gestellt“ hätten. Dabei hätten zum Beispiel Diakonie und Caritas auch die Altenpflege im Angebot und dadurch die Möglichkeit, betroffenen ehemaligen Heimkindern eine Pflege anzubieten, die sie nicht wieder retraumatisiere.
Fehlende Anerkennung belastet Betroffene
Nach einem Impulsvortrag von Dr. Uwe Kaminsky mit einem historischen Blick auf die Heimerziehung diskutierten im dritten Panel zu Aufarbeitung und Anerkennung die Sozialpädagogin Katharina Loerbroks, die unter anderem drei Jahre lang als Referentin für den Runden Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ gearbeitet hat, und die Sozialarbeiterin Petra Schwarzer-Knape, die seit 2023 das UNSER HAUS - Projekt für und mit Menschen mit Heimerfahrung leitet. Als erfolgreich sieht sie das Konzept des Hauses an, ein offener Treffpunkt zu sein. Dort könnten sich Betroffene in ihrem Tempo annähern, manche öffneten sich erst nach langer Zeit über ihre eigene Geschichte. Im Projekt gibt es auch kulturelle Angebote, die Menschen vernetzen. Hauptamtliche stehen zur Verfügung, um individuelle Aktenrecherchen zu begleiten.
Akten seien für viele Betroffene ein wichtiges Puzzleteil zu ihrer Geschichte. Sie wollten erfahren, warum zum Beispiel ihre Eltern sie weggegeben hätten, oder ob es später noch Versuche der Kontaktaufnahme gab. Ihre Kollegin mache bei der Recherche mittlerweile oft gute Erfahrungen mit Archiven in den verschiedenen Bundesländern. Allerdings seien in vielen Fällen Akten nicht wiederauffindbar oder vernichtet und würden auch zum Teil zurückgehalten. Beide Expertinnen warnten zudem davor, dass Heimakten oft in einer Sprache abgefasst seien, die Betroffene verletzen könne.
Eine Entschädigung sei für viele Menschen mit Heimerfahrung, die aufgrund der verwehrten Bildungswege häufig in Armut leben, ein wichtiges Thema.
Eine monatliche Rente wäre schon eine angemessene Leistung. Und die Folgen werden mit Älterwerden nicht weniger.
Petra Schwarzer-Knape
Im vierten Panel blickten Stefanie und Prof. Dr. Michaela Heinrich-Rohr auf die stationäre Kinder- und Jugendhilfe nach 1990. Stefanie wuchs von ihrem ersten Lebensjahr bis zur Volljährigkeit in einer Einrichtung auf. Michaela Heinrich-Rohr ist heute als Professorin für Soziale Arbeit in Berlin und Erfurt tätig, berichtete aber zudem über ihr Aufwachsen als Kind zweier ehemaliger Heimkinder und hat auch selbst Erfahrungen als Careleaverin. Der Begriff kommt aus dem Englischen, damit bezeichnen sich Menschen, die aus einer Pflegefamilie oder einer Jugendhilfeeinrichtung die Hilfe beendet haben.
Stefanie berichtete, dass sie während der langjährigen Heimunterbringung starken Repressalien ausgesetzt war. Die Methoden und Einstellungen der Mitarbeitenden in dem Kinderheim in Ostdeutschland seien auch nach 1990 repressiv und autoritär gewesen. Häufig sei beispielsweise mit öffentlicher Demütigung und Beschämung gearbeitet worden, wie nackt ausziehen vor einer Gruppe. Auch der Entzug von Essen, indem etwa nach bestimmten Uhrzeiten kein Essen mehr ausgegeben wurde, führte zu einem hohen Konfliktpotenzial unter den Kindern und Jugendlichen.
Ich wusste überhaupt nicht, dass Kinder eine Würde haben, und dass wir Rechte haben. Ich dachte, dass man mit Heimkindern so etwas machen kann.
Stefanie
Michaela Heinrich-Rohr hat in ihrem langjährigen Engagement u.a. beim Careleaver e.V. und K.I.N.D. e.V. auch in jüngerer Vergangenheit noch Einstellungen von Fachkräften beobachtet, die Übergriffen Vorschub leisten, wie der Hinweis an eine Jugendliche, sie solle sich nicht „sexy“ anziehen, um die Erzieher „nicht zu gefährden“ oder dass in Fällen von sexualisierter Gewalt den Betroffenen immer noch zu oft nicht geglaubt wird. Solche Haltungen zeigten, wie notwendig es weiterhin sei, sich mit Nachdruck für umfassende Schutzkonzepte in stationären Einrichtungen einzusetzen. Dazu gehöre die verpflichtende Implementierung eines unabhängigen Beschwerdesystems, aber auch eine wirksame Interessenvertretung: „Kinder und Jugendliche müssen personelle und finanzielle Ressourcen erhalten, um ihre Anliegen in der stationären Hilfe sichtbar zu machen“, so Heinrich-Rohr.
Forderungen nach Andenken und konkreter Unterstützung
Im Abschlusspanel diskutierten die Unabhängige Beauftragte für Fragen des Sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, Ignaz Raab von der Unabhängigen Expert*innenkommission München und Prof. Dr. Wolfgang Schröer von der Universität Hildesheim über konkrete Unterstützungsbedarfe von Betroffenen und Möglichkeiten der Anerkennung des geschehenen Unrechts.
Ignaz Raab berichtete von der aus seiner Sicht beispielhaften Aufarbeitung in München. Dort habe der Stadtrat anerkannt, dass viele Heime zwar konfessionell geführt, aber vom Jugendamt beschickt worden seien. Seine Kommission kläre nun die Einzelschicksale von bisher rund 250 Personen aus Heimen, der Pflege, Adoptionen, über alle Gewaltformen hinweg. Dazu gehöre auch behördliche Gewalt. Der Münchner Stadtrat habe eine Summe von 35 Millionen Euro für Anerkennungszahlungen genehmigt. Bisher kenne er keine Kommunen, die ähnlich agierten.
Wir sind nach dreieinhalb Jahren immer noch die einzige Kommune in Bayern und Deutschland, die aufarbeitet. Ich frage immer: ‚Ist das Jugendamt München der einzige Hort des Bösen?‘. Ich denke: Nein.
Ignaz Raab
Strukturen wie unabhängige Missbrauchsbeauftragte, Aufarbeitungskommissionen und Betroffenenräte auf Landesebene könnten dazu beitragen, den Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in die Fläche zu tragen. Wichtig gerade für ehemalige Heimkinder sei aber auch eine finanzielle Unterstützung. Dazu müsse der Fonds Sexueller Missbrauch fortgesetzt werden, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, mahnte Kerstin Claus. Dabei sei es hilfreich, wenn ihr Amt einbezogen würde. Auch die Forderung nach einer Rentenzahlung an Betroffene unterstütze sie.
Nach Ansicht von Wolfgang Schröer, der an der Universität Hildesheim mehrere Aufarbeitungsprojekte geleitet hat, müssen die rechtlichen Pflichten des Staates deutlich weiter gehen als bis jetzt. Beispielsweise sollten Personen, die einen Careleaver Status haben, diesen nicht erneut vor jeder Behörde begründen müssen, um Leistungen zu erhalten. Betroffene müssten bei Ansprüchen gegenüber Institutionen Rechtsanwält*innen zur Seite gestellt bekommen. Gesetzlicher Zwang sei nötig, damit Kinder- und Jugendschutz auch auf Landes- und kommunaler Ebene flächendeckend gewährleistet sei.
In der Aufarbeitung müsse es eine Gewaltenteilung geben, so Schröer. Die Kirchen seien hochverflochten und könnten dies nicht allein regeln. Es brauche Verantwortungsübernahme staatlicherseits. Hier sei der Bundestag aufgefordert, tätig zu werden. Dieser könne zuvor auch schon auf symbolischer Ebene Anerkennung für ehemalige Heimkinder schaffen, waren sich die Podiumsgäste einig. Eine Gedenkveranstaltung im Bundestag, in der die Verbrechen gegen ehemalige Heimkinder benannt und der Opfer gedacht und eine Entschuldigung ausgesprochen würde, sei dafür ein angemessener Rahmen.
Weitere Informationen zu den Forderungen der Aufarbeitungskommission nach dem Hearing Heimerziehung finden Sie hier.
Fotos ©Phototek