Welche Erwartungen haben Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs an die gesellschaftliche Aufarbeitung?
17.09.2019 Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs veröffentlicht Studie
Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs veröffentlicht heute die Studie „Erwartungen Betroffener sexuellen Kindesmissbrauchs an die gesellschaftliche Aufarbeitung“. Sie ist das Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojektes von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts zu Geschlechterfragen/FIVE Freiburg unter Leitung von Kommissionsmitglied Barbara Kavemann.
Im Zentrum der Studie stehen die Erwartungen Betroffener an die individuelle, institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitung von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend. In die Studie sind die Ergebnisse aus einer breiten Befragung Betroffener eingeflossen: 419 Online-Fragebögen sowie 51 Interviews und 6 Gruppendiskussionen mit insgesamt 41 Teilnehmenden. Es wurde u.a. folgenden Fragen nachgegangen: Was bedeutet Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs? Was erwarten Betroffene von gesellschaftlicher Aufarbeitung? Wie spiegeln sich die Erwartungen in der Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs wider? Wie könnte Gerechtigkeit hergestellt werden?
Prof. Dr. Barbara Kavemann, Soziologin und Mitglied der Kommission: „Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs umfasst sowohl die individuelle Bewältigung der erlebten sexuellen Gewalt als auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Strukturen und Bedingungen, die diese Gewalt möglich gemacht und ihre Beendigung erschwert bzw. verhindert haben. Beides steht in Zusammenhang miteinander: Die individuelle Bewältigung gelingt häufig nur, wenn eine Gesellschaft und ihre Institutionen bereit sind, sexuelle Gewalt und ihre Folgen ernst zu nehmen und Unterstützung bereitzustellen und zugänglich zu machen. Für eine Gesellschaft wiederum ist es erforderlich, Betroffene an Aufarbeitungsprozessen zu beteiligen und die Aufarbeitung an der Perspektive der Betroffenen auszurichten, um gesellschaftliches Bewusstsein zu verändern und Verbesserungen zu bewirken.“
Bewältigung, Anerkennung und Gerechtigkeit als zentrale Aspekte
Die Ergebnisse der Studie zeigen die Bedeutung von Aufarbeitung für Betroffene und Verbesserungsbedarf in vielen Bereichen. Von Gesellschaft und Politik erwarten Betroffene, dass die Bedingungen bereitgestellt werden, die sie brauchen, um sexuellen Kindesmissbrauch und dessen Folgen persönlich bewältigen zu können.
Hierzu gehören ausreichende und passende Hilfe und Therapie; eine entsprechende Qualifizierung von Fachkräften, die in Behörden über die Versorgung von Betroffenen entscheiden; ungehinderte Akteneinsicht bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit sowie fachlich kompetente Begleitung – nicht nur in Strafprozessen, sondern auch bei der Auseinandersetzung mit Behörden oder mit Institutionen, in denen Gewalt erlebt wurde.
Des Weiteren erwarten Betroffene eine Anerkennung des erlebten Unrechtes und dessen Folgen, die ihnen häufig verwehrt bleibt. Das betrifft sowohl Anerkennung auf privater Ebene in der Auseinandersetzung mit ihren Familien, die sie in der Kindheit nicht geschützt hatten, wie auf rechtlicher Ebene, wenn sie versucht haben, Ansprüche auf Entschädigungen geltend zu machen, die letztlich abgewiesen wurden. Auch auf der sozialen Ebene erfahren Betroffene meist keine Anerkennung, wenn sie ihre Gewalterlebnisse offengelegen und darüber sprechen. Stattdessen erleben sie Stigmatisierung und Benachteiligung.
„Weder werden Leid und Unrecht in unserer Gesellschaft angemessen anerkannt, noch erfährt die Stärke ein Anerkennung, welche Betroffene entwickeln müssen, um sich mit der Erinnerung und den Folgen des Missbrauchs ein Leben aufzubauen, das für sie mehr ist als Überleben“, so Prof. Kavemann.
Gerechtigkeit wurde als ein weiterer wichtiger Aspekt in den Interviews genannt. Diese herzustellen ist vor allem eng geknüpft an konkrete Verbesserungen der Lebenssituation von betroffenen Menschen, die zum Teil bis weit ins Erwachsenenalter hinein an den Folgen des Missbrauchs und unter spezifischer Benachteiligung leiden. Das betrifft auch die ökonomische Situation vieler Betroffener, weil ihnen entsprechende Chancen versagt blieben. Die Gesellschaft muss ihnen einen Nachteilsausgleich bieten.
Aus Sicht der Betroffenen kann die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs im Rahmen ihrer Arbeit einen Beitrag dazu leisten, die Erwartungen Betroffener sexuellen Kindesmissbrauch an die individuelle und gesellschaftliche Aufarbeitung zu erfüllen. Durch vertrauliche Anhörungen, schriftliche Berichte oder öffentliche Hearings erkennt sie das erlebte Unrecht an und unterstützt damit Betroffene bei der persönlichen Bewältigung der erlebten Gewalt. Die Kommission gibt Betroffenen eine Stimme, wenn sie in ihren veröffentlichten Berichten die Defizite in der Gesellschaft aufzeigt, auf die Betroffene aufmerksam gemacht haben und die die Bewältigung erlebter Gewalt verhindern oder erschweren. Darüber hinaus setzt sie sich für eine öffentliche Auseinandersetzung mit sexuellem Kindesmissbrauch in allen Bereichen unserer Gesellschaft ein.
Die Autorinnen und Autoren der Studie sind Prof.in Dr. Barbara Kavemann, Bianca Nagel M.A., Daniel Doll M.A. und Prof.in em. Dr. Cornelia Helfferich.
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