Wissenschaftliche Erkenntnisse über sexuellen Missbrauch in der Familie


07.09.2021 Die Familie genießt als privater Raum einen besonderen gesetzlichen Schutz. Doch für Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt in der Familie erleben, kann dieser Schutz zum Verhängnis werden. Das zeigen die Ergebnisse der Studie „Sexuelle Gewalt in der Familie. Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von 1945 bis in die Gegenwart“ auf. Sie ist das Ergebnis eines fünfjährigen Forschungsprojekts an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.


Für die Studie wurden insgesamt 870 vertrauliche Anhörungen und schriftliche Berichte mit quantitativen und qualitativen Methoden ausgewertet. Sie zeigt neben dem Spezifischen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie auch die Verantwortung unserer Gesellschaft für Hilfe und Aufarbeitung in diesem Tatkontext auf.

Ein zentrales Merkmal des Tatorts Familie ist die Möglichkeit der Täter oder Täterinnen sowie anderer Beteiligter, sich nach außen abzuschotten, den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten und so einem betroffenen Kind alle Auswege aus der Gewalt zu versperren. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Tatkontexten ist, dass Kinder ihre Familie meist nicht einfach verlassen können wie z.B. eine Schule oder einen Sportverein. Kinder bleiben der sexuellen Gewalt in der Familie somit oft über einen langen Zeitraum ausgeliefert.

Menschen im Umfeld von Familien scheuen sich allzu oft davor zu intervenieren und denken, es gehe sie nichts an, was hinter der Haustür einer Familie vor sich geht. Auch bei Fachkräften des Jugendamtes, so berichten Betroffene der Kommission, war diese Scheu vorhanden.

Prof. Dr. Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission

In Familien sind gerade die jüngsten Kinder besonders betroffen: Bei fast der Hälfte der Betroffenen begann der Missbrauch bereits vor dem sechsten Lebensjahr. Wenn die Gewalt im jungen Alter begann, dauerte sie oft viele Jahre an. Mit Abstand am häufigsten wurde von Tätern und Täterinnen unter den Eltern berichtet (44 %). Die insgesamt größte Tätergruppe waren Väter mit 36 %. Mütter sind mit rund 8 % als Täterinnen dokumentiert. Zieht man Pflege- und Stiefeltern hinzu, machten Väter fast die Hälfte (48 %) und Mütter 10 % der Tätergruppe aus. Außerdem wurden als Täter und Täterinnen Groß- und Stiefonkel, Brüder, Großväter, andere männliche Verwandte, Stiefgroßväter, Stiefbrüder und Tanten genannt. Viele Betroffene erlebten Gewalt durch mehr als einen Täter oder eine Täterin innerhalb oder außerhalb der Familie. Teilweise wussten diese voneinander, sprachen sich ab oder planten und organisierten die sexualisierte Gewalt zusammen.

Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass die Gewalt nur in wenigen Fällen durch Dritte beendet wurde. Meist endete sie für die Betroffenen ohne ersichtlichen Grund, was das Erfassen der Tat und die Aufarbeitung der sexuellen Gewalt umso schwerer machte. Kinder und Jugendliche haben immer wieder versucht, der sexuellen Gewalt zu entkommen. Sie vertrauten sich Familienangehörigen an, insbesondere Müttern, und schilderten „Strategien“, wie von zu Hause weggelaufen. Oftmals erfuhren die Betroffenen keine direkte Hilfe aus dem Umfeld und wurden von ihren Vertrauenspersonen enttäuscht.

Die Analyse der Betroffenenberichte zeigt auf, dass Vertrauenspersonen in- und außerhalb der Familie, wie Mütter, Lehrerinnen und Lehrer, Trainerinnen und Trainer, gute Unterstützung und Beratung benötigen, um ihr Kind schützen zu können. Auf der Basis der Betroffenenberichte ist zu klären, wie Jugendämter agiert haben und ob und wie Hilfe wirkungsvoll war. Hierzu hat die Kommission jüngst eine Fallstudie in Auftrag gegeben.

Betroffene fordern, dass neben der gesellschaftlichen Aufarbeitung auch in der einzelnen Familie selbst aufgearbeitet werden muss. Auch hierfür benötigen Familien fachliche Beratung und Unterstützung. Diese ist für Angehörige bisher kaum verfügbar.


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