Über 600 Teilnehmende beim Fachtag Familie


25.01.2022 Der Fachtag „Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie“ der Kommission war ein voller Erfolg. Rund 600 Personen nahmen digital an der Veranstaltung der Aufarbeitungskommission teil, bei der Betroffene sowie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis miteinander ins Gespräch kamen.


Foto des Vorschau-Bildschirms der Regie beim Digitalen Fachtag Familie: Auf dem Split Screen sind die vier zugeschalteten Personen Barbara Kavemann, Renate Bühn, MariaAndrea Winter und Sabine Andresen zu sehen.
Fachtag "Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie": Impulsvorträge

In insgesamt vier Diskussionsrunden wurden die Aufarbeitung in Familien und eine Kultur des Einmischens thematisiert, sowie Möglichkeiten erörtert, den Kompetenzraum Familie zu stärken. Dazu debattierten Vertreterinnen des Betroffenenrats beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Fachkräfte aus Beratung, Justiz und Sozialarbeit.

In ihrem Grußwort zum Auftakt bekannte sich Bundesfamilienministerin Anne Spiegel zum Ziel, die Aufarbeitungskommission fortzusetzen und eine gesetzliche Grundlage für ihre Arbeit zu schaffen. Es sei wichtig, das vom Betroffenenrat so genannte „Ethos der Einmischung“ zu kreieren, um Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen.

Für eine unerträglich hohe Anzahl an Kindern und Jugendlichen ist die Familie kein Schutzraum, sondern die Hölle auf Erden – jeden Tag.

Anne Spiegel, Bundesfamilienministerin

Gleichzeitig zollte sie erwachsenen Betroffenen Respekt für ihren Mut und ihre Offenheit. Der gesellschaftliche Druck, sich mit Aufarbeitung in Familien auseinanderzusetzen, müsse erhöht werden. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des Sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, erinnerte daran, dass die Aufarbeitung gerade in der Familie herausfordernd sei, weil sie als privater Raum erachtet werde. Die Familie sei der Ort, den Kinder und Jugendliche auch bei massiven innerfamiliären Konflikten nicht einfach verlassen können- auch nicht bei schwerster sexueller Gewalt durch Familienangehörige. Der Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs solle daher etwa um die Beratung von Institutionen erweitert werden und künftig auch Kontrollrechte enthalten.

Idealisiertes Familienbild verhindert Einmischung

Wichtige Impulse zu Beginn der Veranstaltung lieferten Prof. Dr. Sabine Andresen, ehemalige Vorsitzende der Aufarbeitungskommission und Co-Autorin der Studie zu sexueller Gewalt in der Familie; Maria-Andrea Winter, die als Betroffene an der Diskurswerkstatt zur Studie teilgenommen hat, sowie Renate Bühn vom Betroffenenrat beim UBSKM. Sabine Andresen fasste grundlegende Erkenntnisse zum Tatkontext Familie zusammen. So berichtete eine übergroße Mehrheit der Betroffenen in Anhörungen und Berichten bei der Kommission von Missbrauch in der Familie. Zieht man Pflege- und Stiefeltern hinzu, machten Väter fast die Hälfte (48 %) und Mütter 10 % der Tätergruppe aus. Im Vergleich etwa zu Institutionen wie der Kirche oder Sportvereinen sind in Familien schon sehr kleine Kinder, auch im Baby- und Kleinkindalter betroffen. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Tatkontexten ist, dass Kinder ihre Familie meist nicht einfach verlassen können. Renate Bühn betonte, dass es vielen auch als Erwachsene schwerfiele, sich emotional von der Familie zu lösen.

Wir erfahren, dass Täter in der Familie integriert bleiben. Dabei wird die aktive Vertuschung und Verleugnung durch andere Familienmitglieder aufrechterhalten. Das ist für Betroffene sehr belastend.

Renate Bühn, Betroffenenrat

Es brauche daher mediale Unterstützung und konstanten Druck von außen, der Familienangehörige in die Verantwortung nehme und Betroffene entlaste. Denn die Betroffenen von Missbrauch in der Familie hätten keine Institution wie z.B. die Kirche, die sie in die Pflicht nehmen könnten. Maria-Andrea Winter wünschte sich, dass der ökonomische Kontext der Betroffenen mehr betrachtet wird, gerade wenn sie in ihren beruflichen Werdegängen „schwächeln“. Denn jeder Mensch habe das Recht auf Teilhabe.

Barbara David von der Fachberatungsstelle Violetta aus Hannover brachte im anschließenden Panel das idealisierte Familienbild ein , das nach Ansicht vieler Teilnehmender einer Kultur der Einmischung im Weg steht.

Das Bild von Familie als Ort der Geborgenheit, als Schutzraum finde ich schwierig. Ich frage mich, was macht das mit den Betroffenen, wenn sie das immer wieder hören? Letztendlich führt es dazu, dass Aufarbeitung erschwert wird.

Barbara David, Fachberaterin

Die meisten Menschen hätten keine tolle Familie, ergänzte die Juristin und Anhörungsbeauftragte Doris Kahle. Es müsse nicht immer sexuelle Gewalt oder Vernachlässigung sein, es gebe viele Dinge, die Familien belasten. Hoffnung setzten die Panelteilnehmenden in Wege, die eine Sprechfähigkeit über sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche herstellen. Barbara David brachte Nachbarschaftscafés und die vom UBSKM geplante Sensibilisierungskampagne ins Gespräch. Georg Fiedeler von der Fachberatungsstelle Anstoß/Männerbüro Hannover erklärte, es gehe nur mit einem starken Zusammenhalt, dieses Tabu aufzubrechen. Zudem müsse die Finanzierung der Fachberatungsstellen, die häufig von der Jugendhilfe abhinge, auf breitere Füße gestellt werden, um auch erwachsene Betroffene bei der Auseinandersetzung mit ihren Familien gut begleiten zu können. Angela Marquardt vom Betroffenenrat brachte eine insgesamt bessere Finanzierung von gesellschaftlicher Aufarbeitung auf den Tisch. Allzu oft werde die Aufarbeitung individualisiert. Aber die Gesellschaft habe die Aufgabe, Aufarbeitung voranzutreiben. Sie sei die Grundlage, um über nachhaltigen Kinderschutz reden zu können.

Gast Angela Marquardt und Moderatorin Beate Hinrichs auf der Bühne bei Panel 1. Im Vordergrund, in Unschärfe: Kopf eines Kameramanns
Fachtag "Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie": Panel 1 mit Angela Marquardt und Moderatorin Beate Hinrichs

Zu wenig Wissen in den Institutionen

Im zweiten Panel diskutierten Ilka Kraugmann vom Betroffenenrat, Prof. Dr. Stefan Heilmann, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Frankfurt a.M., Prof. Dr. Sabine Walper vom Deutschen Jugendinstitut und Prof. Dr. Sabine Andresen über die im Impulspapier des Betroffenenrates eingeforderte Kultur des Einmischens.

Ilka Kraugmann schilderte zu Beginn eine Situation, in der sie auf der Straße auf eine Mutter traf, die ihren Sohn schlug. Eindrücklich beschrieb sie ihre Hemmungen, sich einzumischen. In Bezug auf ihre eigene Erfahrung resümierte sie, ein Teil von ihr habe immer noch das Gefühl, es sei beschämend, aus „so einer“ Familie zu kommen.

Das steckt uns tief in den Knochen: Das ist Familie, das ist Tabu.

Ilka Kraugmann, Betroffenenrat

Sabine Andresen ergänzte, dass man zu diesem Thema viel aus der Diskussion um das Recht auf gewaltfreie Erziehung lernen könne. Es sei durchaus akzeptiert, dass Kinder anders behandelt werden als Erwachsene, dass sie jemandem „gehörten“. Das sei auch in der Debatte um Kinderrechte im Grundgesetz wieder deutlich geworden.

Man sehe in der Rechtsprechung eine Idealisierung der Familie und eine Zentrierung auf Elternrechte, konstatierte Familienrichter Stefan Heilmann. Eine Grundgesetzänderung könnte Einfluss auf die innere Haltung von Rechtsprechenden nehmen. Denn auf die komme es im Einzelfall an. „Was ist eine Kindeswohlgefährdung? Ist es gefährdend, wenn ein Stiefvater Kinderpornografie besitzt?“ Hier gebe es bei Richterinnen und Richtern unterschiedliche Wertevorstellungen. Deswegen sei es wichtig, dass der Gesetzgeber mit der Familienrechtsreform erstmals eine Grundbildung für Familienrichterinnen und Familienrichter vorsieht. In Bezug auf eine kindgerechte Justiz sei noch zu wenig Wissen vorhanden.

Auf dem Vorschau-Bildschirm der Regie sind ein Bild von der Bühne und die drei zugeschalteten Gäste zu sehen: Sabine Walper, Stefan Heilmann und Sabine Andresen
Fachtag "Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie": Panel 2

Sabine Walper unterstrich diese Aussage für die Jugendämter. Sie beobachte, dass hier das Personal oft sehr unsicher im Umgang mit Fällen sei, etwa Hemmungen habe, die Kinder mehrmals zu befragen. Zudem betrachte die Kinder- und Jugendhilfe die Eltern immer als zentrale Kooperationspartner, häufig werde etwa versucht auszuloten, inwieweit sie zur Zusammenarbeit bereit sind. Da könne der Vorschlag von Sabine Andresen helfen, die Interessen und Sichtweisen des Kindes als Ausgangspunkt zu nehmen, es sozusagen als Auftraggeber anzusehen.

Um eine bessere Vorbereitung und Nutzung der vorhandenen Netzwerke und Institutionen ging es im abschließenden Panel mit der Fach- und Organisationsberaterin Carmen Kerger-Ladleif, Dr. Thomas Meysen vom SOCLES International Centre for Socio-Legal Studies, Dr. Dirk Bange von der Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration Hamburg, sowie Heike Völger aus dem Arbeitsstab des UBSKM.

Carmen Kerger-Ladleif betonte, sie arbeite seit 30 Jahren in diesem Thema und sei immer noch erstaunt, dass es kein Teil der pädagogischen Ausbildung sei, wie man ein schwieriges emotionales Thema als Fachkraft anspreche. Aus Sicht von Dirk Bange ist das Personal von Jugendämtern nicht genügend fortgebildet. So sei es „mittlerweile eher typisch als untypisch“, dass von sexuellem Missbrauch in Familien auch Bilder und Filme produziert und verbreitet werden. An dieser Stelle sei bei den Ämtern immer noch wenig Wissen vorhanden.

Die Expertinnen und Experten erörterten unterschiedliche Bereiche, in denen der Fokus auf sexuellen Missbrauch verstärkt werden könnte. In Schulen und Kitas sei es schwer, Veranstaltungen direkt zum Thema zu machen. Eltern hätten aber viel Interesse beispielsweise an sexueller Bildung. Einen solchen Informationsabend könne man auch nutzen, um auf sexuellen Missbrauch aufmerksam zu machen, so Dirk Bange. Heike Völger ergänzte, dass sich Ähnliches im Oberstufenbereich rund um das Thema Medienbildung anwenden ließe. In Fortbildungen zum Medienkonsum der Jugendlichen könnten auch Missbrauchsabbildungen angesprochen werden.

Die Frage nach Netzwerken, in denen Informationen über sexuellen Kindesmissbrauch verbreitet werden könnte, beantwortete Thomas Meysen. Sein Institut habe international untersucht, von wem Hinweise auf Kindeswohlgefährdung bei Behörden eingingen. In Deutschland habe sich mit Abstand die höchste Zahl an Kindern und Jugendlichen an die Hilfesysteme gewandt.

Wir haben eine bundesweite Beratungsstruktur an niedrigschwelligen Angeboten, das ist eine enorme Ressource. Da können wir sagen: wir sind noch nicht gut, aber wir können darauf aufbauen.

Thomas Meysen, SOCLES Institut

Bild von der Bühne beim Fachtag Familie mit Gästen Thomas Meysen und Heike Völger. Im Vordergrund in Unschärfe: Kopf der Moderatorin.
Fachtag "Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie": Panel 3 mit Thomas Meysen

Fazit

Barbara Kavemann, Mitglied der Kommission, sprach im Anschluss von „vielen Impulsen, aber auch einem Aufgabenpaket für die Kommission und die Politik.“ Es sei klar geworden, dass Aufarbeitung immer mehrdimensional angelegt sein müsse und die Bedürfnisse von erwachsenen Betroffenen nicht vergessen werden dürften. Auf gesellschaftlicher Ebene müsse ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Kinder Rechte haben und kein Privateigentum sind.

Auf Ebene der Institutionen ginge es darum, Schnittstellen und Überschneidungen, etwa mit anderen Gewaltformen, in den Blick zu nehmen. Institutionen wie Jugendämter und Familiengerichte müssten ihre bisherige Praxis kritisch beleuchten und die Erfahrungen der Betroffenen ernst nehmen.

In den Familien brauche es mehr Angehörige, sich „gerade machen“ und Position für die Kinder und Jugendlichen beziehen. Dabei dürften die Familien aber nicht allein gelassen werden. Angela Marquardt habe darauf hingewiesen, dass die Gesellschaft nicht das Recht habe, das Thema zu beschweigen. Barbara Kavemann ergänzte, auch die Familienpolitik habe nicht das Recht, untätig zu bleiben. Es sei viel von dicken Brettern gesprochen worden. Aber es habe auf dem Fachtag Familie wertvolle Hinweise gegeben, wie sie angegangen werden könnten.

Die Kommission braucht Unterstützung und eine Rechtsgrundlage. Wir versprechen uns von der Koalition, dass sie das Thema sexueller Missbrauch ernst nimmt und weiterverfolgt.

Barbara Kavemann, Mitglied der Aufarbeitungskommission

Auf der Bühne des Fachtags: Barbara Kavemann während ihres Schlussworts
Fachtag "Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie": Schlusswort von Barbara Kavemann

Hier geht es zu den Video-Mitschnitten der Veranstaltung in unserer Mediathek.

Alle Fotos ©Jens Ahner


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