Stellungnahme der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (MHG-Studie)
25.09.2018 Die Ergebnisse der durch die katholische Kirche beauftragten Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (MHG-Studie) erschüttern. Mehr als 3.600 Fälle sexuellen Missbrauchs hat das Forscherteam identifiziert, 4,4 Prozent der Geistlichen haben sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen verübt. Niemand in unserer Gesellschaft kann die Augen vor dem Missbrauchssystem innerhalb der katholischen Kirche verschließen.
Für die Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs sind die vorgelegten Forschungsergebnisse wichtig. Sie bestätigen die Berichte von Betroffenen aus den Anhörungen vor der Kommission und beim öffentlichen Hearing „Kirchen und ihre Verantwortung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ im Juni 2018. Die Erkenntnisse über strukturelle Möglichkeiten zum Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche, das Ausmaß und die Strategien der Vertuschung sowie die Verantwortungs- und teilweise Respektlosigkeit im Umgang mit Betroffenen verlangen nun nach einer umfassenden unabhängigen Aufarbeitung. Die vorgestellte MHG-Studie ist ein wichtiger Anfang.
Die seriöse Arbeit des Forschungskonsortiums hat eine gute Basis für die katholische Kirche geschaffen, um Reformen auf den Weg zu bringen und konsequent umzusetzen. Sie bietet allen in der Gesellschaft eine wichtige Wissensgrundlage, um der Kirche gegenüber längst überfällige Strukturveränderungen einzuklagen. Niemand kann mehr behaupten, es handle sich um Einzelfälle.
Die Befunde der Studie zeigen auf, dass vor allem die innerkirchlichen Machtstrukturen den Schutz der Kinder und die Rechte der Betroffenen untergraben. Dringend geboten ist eine konsequente Analyse täterfreundlicher Strategien innerhalb der Kirche. Denn Täter mussten selbst bei Bekanntwerden der Taten wenig befürchten: Bei lediglich einem Drittel aller Beschuldigten ist ein kirchenrechtliches Verfahren eröffnet worden. Davon endete ein Viertel mit keinerlei Sanktionen. Vielfach wurden Täter in eine andere Gemeinde versetzt, ohne diese zu informieren. Damit nahmen die Verantwortlichen wissentlich in Kauf, dass weitere Kinder sexueller Gewalt ausgeliefert wurden.
So wichtig die MHG-Studie ist, waren den Forscherinnen und Forschern durch die Beauftragung aber Grenzen gesetzt. Dadurch bleiben zentrale Fragen unbeantwortet. An die Erkenntnisse einerseits und die deutlichen Aufarbeitungsdefizite andererseits schließen die Forderungen der Kommission an.
Forderungen der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
1. Die katholische Kirche sollte die Ergebnisse der Studie und mögliche Schlussfolgerungen daraus mit Betroffenen diskutieren und diese in den weiteren Aufarbeitungsprozess mit einbinden.
2. Unverzichtbar ist eine von den Kirchenleitungen glaubwürdig vorgelebte, wertschätzende und offene Haltung gegenüber den Anliegen betroffener Menschen. Zentral ist, dass die katholische Kirche den Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs auf Augenhöhe begegnet. Dazu gehört vor allem eine Haltung, die von Empathie geprägt ist.
3. Die katholische Kirche hat sich bisher nicht aus eigenem Antrieb heraus den Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs gestellt, sondern nur aufgrund des öffentlichen Drucks durch Betroffene und wenn sie die Taten nicht länger leugnen konnte. Jedes Bistum und jeder Orden sollte proaktiv und unabhängig aufarbeiten lassen.
4. Die nun vorgelegte Studie und andere Forschungsberichte identifizieren Spezifika der katholischen Kirche, die sexuellen Kindesmissbrauch und dessen Vertuschung begünstigen. Daran anschließend empfiehlt die Kommission:
Die kritische Überprüfung der Gemeinde- und Seelsorgearbeit.
Die im Juni 2018 veröffentlichte Fallanalyse der Kommission konnte beispielsweise zeigen, dass der Missbrauch häufig im Zeitraum des Kommunionsunterrichtes begann und mehrere Jahre anhielt. Auch Ministranten waren häufig betroffen.
Die kritische Überprüfung des Beichtgeheimnisses.
Die Kommission weiß aus den Berichten der Betroffenen, dass Hinweise auf sexuellen Missbrauch von Priestern häufig mit dem Verweis auf das Beichtgeheimnis nicht weitergegeben wurden.
Die konsequente Auseinandersetzung mit dem Zölibat und der Haltung zur Sexualität.
Ausgehend von den Überlegungen der MHG-Studie stellen sich Fragen nach dem Zölibat als einem möglichen Risikofaktor für Missbrauchstaten. Dazu ist auch eine kritische und tiefgehende Reflexion des bisherigen Umgangs der Kirche mit Sexualität nötig.
Die Überwindung des Klerikalismus.
Der Umgang mit Betroffenen zeigt bis heute, dass ihre Rechte auf Aufklärung und Entschädigung an der Hierarchie, der Intransparenz und den Machtstrukturen der Kirche abprallen.
5. Für weitere unabhängige Forschung und Aufarbeitung müssen die Kirchenarchive geöffnet und der direkte Zugriff auf sämtliche Originalakten gewährleistet werden. Das gilt für die einzelnen Diözesen, für deren bischöflichen Geheimarchive und letztlich auch für die Archive des Vatikans, da alle Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche dem Vatikan gemeldet werden müssen.
6. Die Orden, die einen erheblichen Teil gesellschaftlicher Aufgaben in kirchlicher Trägerschaft (vor allem in Internaten, Schulen oder Heimen) übernommen haben, müssen in die unabhängige Aufklärung und Aufarbeitung einbezogen werden und ebenfalls ihre Archive öffnen.
7. Auch wenn sexualisierte Gewalt häufiger von Männern ausgeübt wird, darf der Anteil von Frauen nicht vernachlässigt werden. Darum muss die Rolle der Kirchenmitarbeiterinnen und weiblichen Ordensangehörigen ebenfalls aufgeklärt und aufgearbeitet werden.
8. Die Betroffenen haben viel zu lange warten müssen, bis die Kirche begonnen hat, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Viele von ihnen haben nie Gerechtigkeit erfahren. Jetzt sollte eine großzügige Lösung für Zahlungen an Betroffene erarbeitet werden. Wichtig für Betroffene und für die gesamte Gesellschaft ist, dass damit eine eindeutige Anerkennung der Schuld und der Verantwortungsübernahme der Kirche einhergeht.