Kindgerechter und betroffenensensibler Umgang bei sexuellem Missbrauch - ein Austausch mit der Fachpraxis
14.10.2024 – Wie kann der Umgang von Jugendämtern mit Kindern und Jugendlichen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, verbessert werden? Jugendämter stehen tagtäglich in Kontakt mit einer Vielzahl anderer Akteure, wie Familiengerichten, Schulen oder Jugendhilfeträgern. Wie kann die Kooperation besser gelingen? Und wie können Jugendämter die individuelle Aufarbeitung Betroffener unterstützen? Im Zeichen dieser Leitfragen stand ein virtueller Austausch mit über 500 Personen aus der Fachpraxis sowie Betroffenen.
Die Veranstaltung vom Deutschen Institut für Urbanistik (difu) in der Reihe Dialogforum „Bund trifft kommunale Praxis. Inklusionsgerechte Kommune – Gestaltungsperspektiven im Rahmen des KJSG“ in Kooperation mit der Aufarbeitungskommission richtete sich an Betroffene sowie Leitungs- und Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfe, der Behindertenhilfe, des Gesundheitswesens sowie aus den Bereichen Familiengericht, Schule und Wissenschaft.
Ein wichtiger Orientierungsrahmen und Ansatzpunkt für die gemeinsame Diskussion war die Fallstudie der Kommission „Sexueller Kindesmissbrauch und die Arbeit der Jugendämter“ und die darin formulierten Empfehlungen zur Umsetzung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen. In der Studie wurden die Erfahrungen von Betroffenen und Angehörigen mit Jugendämtern, teilweise auch mit Trägern der freien Jugendhilfe oder Familiengerichten ausgewertet. Zudem wurden dazugehörige Jugendamtsakten analysiert und durch Interviews mit langjährigen Expert*innen aus der Fachpraxis ergänzt.
Aus den Berichten Betroffener lernen
Zu Beginn der Veranstaltung verlas Prof. Dr. Barbara Kavemann mit dem Einverständnis einer Betroffenen deren selbst verfassten Text. Sie war in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierter Gewalt in der Familie und der Schule ausgesetzt. Ihre Erfahrungen im Kontakt mit dem Jugendamt entsprechen zum großen Teil auch den anderen Berichten und Anhörungen durch die Kommission, die für die Fallstudie ausgewertet wurden. Es war der Betroffenen ein Anliegen, aus ihren Erfahrungen Botschaften zu formulieren, die die Rechte von Kindern stärken und dabei helfen können, die Arbeit der Jugendämter zu verbessern.
Damit Kinder und Jugendliche sich selbst an das Jugendamt wenden, müssten sie zunächst überhaupt wissen, dass es das Jugendamt gebe, und was seine Aufgaben seien.
Das Jugendamt war mir als Ansprechpartner in solchen Situationen unbekannt. Ich wusste auch nicht, wo es sich befand.
Betroffene
Die Betroffene formulierte, ihr hätte es beim ersten Kontakt mit dem Jugendamt sehr geholfen, wenn sie das Gefühl bekommen hätte, als Mensch wichtig zu sein. Das sei der erste Baustein für eine Vertrauensbasis, die es brauche, damit Kinder und Jugendliche sich anvertrauen könnten. Dafür benötige es auch einen Raum, in dem sie sicher und vertraulich sprechen könnten und in dem ihnen jemand zuhöre. Dabei werde das gemeinsame Verständnis der geschilderten Situation durch Aktives Zuhören unterstützt.
Betroffene, die in der Fallstudie der Kommission zu Wort kommen, berichten außerdem, dass es Kindern und Jugendlichen leichter fallen könne, sich zu öffnen, wenn die (Pflege-)Eltern in der Beratung nicht anwesend seien oder davon gegebenenfalls auch keine Kenntnis hätten. Denn sie befinden sich in einer familiären Abhängigkeitssituation. Viele empfänden Loyalität gegenüber dem missbrauchenden Elternteil, aber auch Scham oder Schuld. Das könne dazu führen, dass das Kind die Gewalt im Gespräch mit dem Jugendamt leugne.
Auch später, als schützende Mutter hätte sich die Betroffene mehr Rückendeckung vom Jugendamt, aber auch von Kinderpsychologen und Richter*innen gewünscht, um ihrem eigenen Kind Jahre der Gewalt ersparen zu können bis das Jugendamt schließlich aktiv wurde.
Unterstützungsangebote für Fachkräfte: Bericht aus der Praxis
Nach der Vorstellung der Fallstudie „Sexueller Kindesmissbrauch und die Arbeit der Jugendämter“ durch zwei der Autor*innen, Dr. Thomas Meysen und Prof. Dr. Heinz Kindler, wurden in einer ersten Expert*innenrunde interne Regelungen im Jugendamt beim Umgang mit Meldungen zu Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs mit Vertreterinnen je eines Jugendamts aus einer Großstadt und aus einem Landkreis besprochen.
Heidrun Holzer ist stellvertretende Leiterin der Stabsstelle Kinderschutz beim Stadtjugendamt München. Sie berichtete aus ihrer praktischen Arbeit und von Unterstützungsdienst, welcher der Bezirkssozialarbeit und der Vermittlungsstelle in den Sozialbürgerhäusern für Gefährdungsbeurteilungen und Co-Arbeit bei allen Arten von Gewalt zur Seite steht. Zudem bietet die Stabsstelle des Jugendamtes Fallberatungen an.
Im Amt für Jugend und Bildung im Kreis Warendorf wurden Leitlinien entwickelt, die dabei helfen sollen, festzustellen, ob es sich um einen Fall sexualisierter Gewalt handelt, berichtete Amtsleiterin Anke Frölich. Dies helfe auch mit Blick auf ein strafrechtliches Verfahren bei der Frage, wie damit umzugehen sei. Durch das Landeskinderschutzgesetz in NRW konnte in ihrem Landkreis unter anderem eine Stelle mit dem Schwerpunkt Kinderschutz eingerichtet werden. Dadurch war es dem Amt möglich, die Weiterentwicklung von Schutzkonzepten in Kitas, Schulen und den Pflegekinderdienst zu unterstützen. Jährlich führt das Amt verbindliche und standardisierte Fortbildungen für Fachkräfte des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) der vier Jugendämter im Kreis durch. Dabei geht es einerseits darum, Expertise von außen für den inneren Dienst zu nutzen und andererseits, die Fachexpertise intern auszubauen. Dennoch stelle sich immer wieder erneut die Frage, wie der geforderte Standard bei der Arbeit erreicht und aufrechterhalten werden könne.
Welches Wissen brauchen Fachkräfte und wie können sie geschult werden?
Mit wem darf ich Informationen teilen, insbesondere wenn die Kinder und Jugendlichen nicht einverstanden sind? Wann wendet man sich als Fachkraft an Strafverfolgungsbehörden? Wie sollten Betroffene dabei einbezogen werden? Der Umgang mit Unsicherheiten bei Meldungen zu sexuellem Kindesmissbrauch sei ein sehr großes Thema bei den Mitarbeitenden, hat der Mitautor der Studie, Dr. Thomas Meysen, in Fortbildungen festgestellt.
Wenn Kinder sich mit einem Anliegen eigenständig an das Jugendamt wenden, ohne die sexualisierte Gewalt zu benennen, ist häufig die erste Reaktion von Mitarbeitenden im ASD ‚Dann spreche ich mal mit Deinen Eltern.‘ Wichtig ist stattdessen, mit dem Kind oder Jugendlichen direkt klären, wann und wie die Eltern einbezogen werden können, sodass sich die Kinder und Jugendlichen geschützt fühlen.
Dr. Thomas Meysen
Die Expert*innen empfehlen, dass in jedem einzelnen Fall sexualisierter Gewalt Betroffene bzw. die Familie auf die Möglichkeit einer Anzeige hingewiesen werden sollten, auch wenn diese erst einmal nicht im Mittelpunkt stehe. Der ASD solle darüber hinaus Jugendliche ab 14 Jahren bei der Anzeigenerstattung unterstützen. „Hierbei ist uns wichtig, dass wir nicht das Heft des Handels in die Hand nehmen, sondern dass wir nur bei der Entscheidung unterstützen und bei den nächsten Schritten begleiten“, so Frölich.
Grundsätzlich sei höchste Aufmerksamkeit und Zuwendung geboten, wenn ein Kind sich selbst an das Jugendamt wendet. Mitarbeitende sollten sich direkt vor Ort um das Kind kümmern, sich Zeit nehmen und aktiv zuhören, so Heidrun Holzer. Dafür brauche es Erfahrung, falls die mitarbeitende Person des Jugendamts diese nicht besitze, dann sollte diese gegebenenfalls durch eine erfahrene Person begleitet werden.
Wie können Fachkräfte dafür bestmöglich fortgebildet werden? Aus Sicht von Anke Frölich müssen entsprechende Kurse regelmäßig und verpflichtend sein. Angeleitete Fallberatungen aus dem eigenen Zuständigkeitsbereich erhöhten die Motivation der Mitarbeitenden. Vor allem aber brauche es einen politischen Willen das Thema anzugehen, der dazu führt, dass finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden:
Habe ich die entsprechende personelle Ausstattung, habe ich die Voraussetzung dafür, dass ich die Grundsätze für ein Gespräch mit einem Kind umsetzen kann: Ruhe und ein empathisches Zugehen.
Anke Frölich
Wie arbeiten Jugendämter mit externen Partner*innen zusammen?
In der zweiten Expert*innenrunde ging es um die Zusammenarbeit von Jugendämtern mit Familiengerichten, Schulen, Kitas und Pflegeeinrichtungen oder -familien. Die zentrale Frage des Austauschs war, wie Kinder und Jugendliche wirksam geschützt werden können, gerade wenn verschiedene Kooperationspartner zusammenwirken. Dafür haben Dr. Eva Strnad, Familienrichterin beim Amtsgericht Köln, Anja Lüttmann, Schulleiterin der Städtischen Gemeinschaftsgrundschule Flurstraße in Düsseldorf, Ruth Seyboldt vom Careleaver e.V. und Prof. Heinz Kindler, vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) und Mitautor der Fallstudie wichtige Hinweise geliefert und Empfehlungen gegeben.
Laut Richterin Dr. Eva Strnad besteht immer wieder die Gefahr, dass Familiengerichte nicht die Verantwortung für den Schutz der Kinder übernehmen. Es brauche eine klare Unterscheidung von familiengerichtlichem Verfahren und Strafverfahren sowie ein unabhängiges Agieren der Gerichte: Das Familiengericht müsse Entscheidungen treffen, die den Schutz des Kindes gewährleisten. Das Strafgericht müsse über die Schuld des Täters urteilen. Das eine Gericht dürfe nicht auf die Entscheidung des anderen warten. Außerdem solle in Familiengerichtsverfahren nicht in erster Linie auf Glaubhaftigkeitsgutachten abgestellt werden.
Es braucht einen offeneren Blick, in den auch Täterstrategien sowie Loyalitätskonflikte des Kindes gegenüber dem missbrauchenden Elternteil einbezogen werden müssen. Es sind im Verfahren alle zu erlangenden Informationen zu berücksichtigen.
Dr. Eva Strnad
Schulleiterin Anja Lüttmann erlebt die Zusammenarbeit der Schule mit der Jugendhilfe in vielen Fällen als gegenseitig unterstützend. Es zeigten sich aber auch Grenzen, zum Beispiel bei der Frage, wie Kinder auch beim Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen oder beim Schulwechsel besser geschützt werden können. Das betreffe vor allem Kinder, die beispielsweise in Wohngruppen lebten. In diesen Fällen stehe die Familie nicht zur Verfügung, um diese Übergangsphase zu begleiten.
An ältere Kinder und junge Erwachsene erinnerte auch Ruth Seyboldt vom Careleaver e.V., einer bundesweiten Selbstorganisation von Menschen, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegefamilien leben oder gelebt haben. Für sie ist klar, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen über die bloße Beendigung der Gewalt hinausreichen muss. Es gehe auch um die Aufarbeitung der Situation und darum, wieder ein gesundes Verhältnis zu sich selbst herzustellen. Denn durch jahrelange Gewalterfahrung könne ein „ver-rücktes“ Bild des Körpers entstanden und der Missbrauch als „normal“ wahrgenommen worden sein. Sie bestätigte eine Empfehlung der Studie, nach der Betroffene bis ins junge Erwachsenenalter begleitet werden sollten. In diesem Alter nehme auch die Bedeutung der Akteneinsicht für Betroffene zu. Damit sind wiederum wesentliche Fragen verbunden: Wie komme ich an Akten? Welche Schwärzungen werden vorgenommen? Bekomme ich eine Kopie? Welche Fragen können mit der Akte überhaupt beantwortet werden? Der Versuch, die eigene Biografie über Akten zu vervollständigen, ende häufig mit Ernüchterung, berichtete Ruth Seyboldt:
Bei der Aktenführung geht es nicht nur darum, einen Rechenschaftsbericht für das behördliche Handeln zu erstellen. Eine Akte ist auch ein Instrument zur biografischen Rekonstruktion. Darum sollten Fachkräfte, insbesondere im Jugendamt, sich bewusst machen, dass man die Akte nicht nur für sich selbst schreibt.
Ruth Seyboldt
Wie kann es gemeinsam gelingen, die Beziehung offizieller Stellen zu Kindern und Jugendlichen zu verbessern?
Das Schutz- und Hilfesystem für Kinder ist arbeitsteilig organisiert. Es müsse deshalb Arbeitskreise der verschiedenen Institutionen und Fachdisziplinen geben, deren Fortbestehen nicht vom Engagement Einzelner abhängig sein dürfe, führte Prof. Dr. Heinz Kindler aus. Dort müssen Diskussionen zur Haltung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen bei sexualisierter Gewalt geführt werden. Ein Kind dürfe nicht nur als „Fall“ gesehen werden, sondern es müsse genau geschaut werden, in welchen Beziehungskonstellationen es sich befinde. Zudem sei es notwendig, dass Personen, die neu in dem Feld seien oder aus einem anderen Fachgebiet kämen, eine gute Einarbeitung erhalten. Dies schließt eine Anleitung und ein Training ein, wie der Kontakt zu Kindern und Jugendlichen gestaltet werden kann.
Für Kommissionsmitglied Prof. Dr. Barbara Kavemann muss das Thema sexualisierte Gewalt Teil der Ausbildung werden. „Ich hatte Glück“ dürfe keine Option sein, wenn es darum gehe, Hilfe zu bekommen, forderte sie.
Fachpersonen dürfen keine Angst vor Betroffenen und dem Thema haben. Das nötige Grundwissen ist von Beginn an in den Ausbildungen an den Hochschulen zu vermitteln. Ohne diese Basis sollte niemand Verantwortung für gewaltbetroffene Kinder tragen müssen.
Prof. Dr. Barbara Kavemann
Insgesamt zog sie jedoch ein positives Fazit der Veranstaltung. Diese zeige, wie aktuell die Berichte heute erwachsener Betroffener von damals noch seien. Im Umgang mit betroffenen Kindern und Jugendlichen gehe es um Zuhören, um Offenheit, und darum, sich als Vertrauensperson anzubieten. Nur so könne es gelingen, dass Kinder und Jugendliche auch beim Jugendamt das Gefühl erhielten, als Mensch wichtig und gemeint zu sein.