Fachgespräch „Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR – Fokus Sport“
26.04.2023 - Mit klaren Forderungen nach mehr Hilfe und Unterstützung für Betroffene sowie nach einer Verantwortungsübernahme für sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im DDR-Sport endete das Fachgespräch der Kommission in Schwerin. Bei der Veranstaltung diskutierten Betroffene, Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Sport mit rund 70 Gästen. Sie ist der Auftakt zu einer mehrjährigen Reihe von Veranstaltungen in den neuen Bundesländern.
„Warum muss man 33 Jahre nach dem Ende der DDR noch über sexuellen Kindesmissbrauch in diesem Staat sprechen?“, fragte Kommissionsmitglied Dr. Christine Bergmann zu Beginn der Veranstaltung provokativ in die Runde und gab die Antwort gleich selbst: „Die DDR gibt es nicht mehr, aber die Menschen sind noch da, die an den Folgen des Unrechts leiden. Sie haben ein Recht auf Aufarbeitung, Anerkennung und Übernahme von Verantwortung.“
Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche habe nicht in das Bild der sozialistischen Gesellschaft gepasst, erläuterte Dr. Christine Bergmann. Das Ansehen einer staatlichen Institution wurde geschädigt, wenn sexuelle Gewalt an die Öffentlichkeit kam. Fachberatungsstellen existierten nicht, und so wirkte das Schweigen lange nach.
Für Betroffene, die heute sprechen, braucht es viel Überwindung und Mut. Wir sind ihnen dankbar dafür.
Christine Bergmann
Auf die Betroffenen ging auch Anne Drescher ein, Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Viele hätten sich schon in den 1990er Jahren gemeldet. Neben den Facetten Doping, Abhängigkeiten und Druck hätten sie auch über Missbrauchserfahrungen im DDR-Leistungssportsystem berichtet. Doch das Thema sei weiter stark tabuisiert.
Unsere Gesellschaft sollte anerkennen, wie vergiftet die sportlichen Erfolge in der DDR sind.
Anne Drescher, Landesbeauftragte
Obwohl das, was Athletinnen und Athleten damals passiert sei, eine klare Menschenrechtsverletzung sei, würden sie bis heute oft als Nestbeschmutzer betrachtet. Die Strukturen aus der ehemaligen DDR seien auch heute präsent und wirkmächtig, stellte Drescher fest.
DDR-Sport: Mehrfache Verwundung der Betroffenen
Zum Auftakt der Veranstaltung berichtete Prof. Dr. Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln über ihre Erkenntnisse aus der Fallstudie sexualisierte Gewalt im Sport, die sie im Auftrag der Aufarbeitungskommission 2022 leitete. Von den 72 dort analysierten Berichten bezogen sich 12 auf den Kontext DDR. Als besonders stellte Prof. Dr. Rulofs heraus, dass der Sport in der DDR als Instrument zur Abgrenzung von westlichen Sportnationen galt. Die frühe Sichtung von talentierten Kindern spielte eine große Rolle, sie wurden schon ab dem achten Lebensjahr in Sportförderklassen und Jugendsportschulen untergebracht. Dies waren teilweise Internate, die weit weg vom Elternhaus waren. Das Prinzip von Selektion und De-Selektion war den Berichten zufolge ein wirksames Machtinstrument. Die Trainer wurden als allmächtig wahrgenommen, das Leben der Kinder wurde ständig überwacht, dazu gehörte das Essen, das Training, die Freizeit und auch medizinische Untersuchungen, die auch für Übergriffe genutzt wurden.
Ein besonderes Merkmal von Betroffenen in der DDR ist, dass ihre Biografien von mehrfachen Verwundungen betroffen sind: Emotionale Gewalt, massives Übertraining und damit Schäden für die Gesundheit, Doping.
Prof. Dr. Bettina Rulofs
Die Betroffene Karin* erzählte daraufhin, dass es für sie ein langer und schwieriger Weg war, bis sie über sexuellen Missbrauch in einem Leistungszentrum für Leichtathletik sprechen konnte. Erst die Beharrlichkeit ihrer Therapeutin habe sie viele Jahrzehnte nach der Tat zu einer Anhörung bei der Kommission geführt. Karin war auch als Zuschauerin beim Hearing Sport der Aufarbeitungskommission im Oktober 2020 dabei und schilderte die Entschuldigung der damaligen DOSB-Vizepräsidentin Petra Tzschoppe als Schlüsselmoment: „Damals war ich sehr ergriffen und überrascht. Ich habe mich über die eindeutige Aussage gefreut. Es war dieses Wort ‚Entschuldigung‘, was viel bewirkt hat.“ Umso enttäuschter sei sie gewesen, als sie über ein Jahr später keine weiteren Handlungen des DOSB beobachtete.
Ich würde mir von der Politik viel weniger Bürokratie wünschen. Und dass man nicht immer hergeht und sagt: 'Es gibt die DDR nicht mehr', also können wir das andere auch vom Tisch wischen.
Karin
Karin machte auch darauf aufmerksam, dass es nötig sei, Bürokratie im Anerkennungsprozess abzubauen. Betroffene sollten ihre Geschichte nicht immer wieder erzählen und beweisen müssen. Gutachten, Nachweise über Klinikaufenthalte oder einen Grad der Behinderung müssten auch für Verfahren auf Opferentschädigung verwandt werden, um Retraumatisierungen zu vermeiden.
Gier nach Medaillen versperrte Aufarbeitung
Im anschließenden Panel diskutierten die Betroffene Susann Wegner, der Journalist André Keil und der Kinderschutzbeauftragte des Landessportbunds Thüringen, Steffen Sindulka, über Möglichkeiten der Aufarbeitung. Susann Wegner berichtete über die gemeinsame Vernetzung von Betroffenen, ohne deren Unterstützung sie ihren Weg der Bewältigung nicht hätte gehen können. Angesiedelt bei der Landesbeauftragten in Mecklenburg-Vorpommern gibt es eine Selbsthilfegruppe für Geschädigte aus dem DDR-Sportsystem. Wegner bekräftigte, sie sei immer wieder bereit, auch in die Medien zu gehen, um auf Aufarbeitung und Unterstützung hinzuwirken. Mit André Keil arbeitete sie bereits für zwei Fernsehdokumentationen zusammen. Allerdings machte sie auch auf Bedenken zur Darstellung von Betroffenen in den Medien aufmerksam.
Ich war skeptisch, weil die zweite Doku sehr emotional war. Ich hatte Angst, dass wir zu sehr als Opfer rüberkommen, ich wollte, dass gezeigt wird, wie stark wir sind, und dass es nicht unsere Schuld ist.
Susann Wegner
Journalist Keil gab zu Bedenken, dass die Recherche in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch sehr intensiv sei und viele Medien heute nicht mehr die Ressourcen dafür hätten. Er wünschte sich bis 2030 zwei oder drei Lehrstühle, die sich mit der historischen Aufarbeitung des DDR-Sports beschäftigten, und deren Arbeit medial begleitet werden könne. In der historischen Rückschau sei es beispielsweise ein großer Fehler gewesen, dass die ZERV (Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität) nicht zu sexuellem Kindesmissbrauch ermittelt hätte, obwohl dieser auch in der DDR eine Straftat darstellte. Das Sportsystem der Bundesrepublik sei auch keine Hilfe gewesen.
Was auf jeden Fall gefehlt hat zur Aufklärung in den 1990er Jahren war die Unterstützung des organisierten Sports. Diese Gier nach den Medaillen, die noch mehr oder weniger in der DDR produziert wurden, hat uns gestoppt.
André Keil
Steffen Sindulka berichtete vor allem aus seiner Erfahrung um die Aufarbeitung von Missbrauch im HSV Weimar. Seiner Meinung nach ist es nicht möglich, Sportlerinnen und Sportler in der Zukunft zu schützen, ohne zunächst die Geschichte eines Vereins aufzuarbeiten.
Es ist wichtig, dass die Vereine sich Unterstützung von außen holen, dass dieser Mikrokosmos sich öffnet und schaut, welche Strukturen sind jetzt hilfreich? Der Blick von außen ist einfach notwendig, denn wir Sportler sind da betriebsblind.
Steffen Sindulka
In der Diskussion mit dem Publikum machte sich Sindulka aber auch dafür stark, die Kultur des Leistungssports zu hinterfragen. Ein vierter bis siebter Platz bei Weltmeisterschaften oder Olympia werde in keinster Weise gewürdigt. Es stelle sich die Frage, ob man sich weiter mit Systemen wie Russland oder China vergleichen wolle. Aus seiner Sicht seien derzeit Leistungssport und Kinderschutz nicht zu vereinen.
Vertreter von Landessportbund und Vereinen machten auf die Schwierigkeiten aufmerksam, mögliche Täter als Trainer herauszufiltern. So sei in einem Verein ein Mann weiter beschäftigt, dem Eltern und Kinder Übergriffe vorwarfen. Die Beweise hätten vor Gericht aber nicht für eine Kündigung gereicht. Im ehrenamtlichen Bereich komme es immer wieder vor, dass Täter zwischen Bundesländern hin- und herwandern. Solange Vorwürfe nicht gerichtlich bewiesen und im Führungszeugnis eingetragen seien, könnten Vereine sich auch nicht gegenseitig vor Verdächtigen warnen.
Lange Wege zur Offenlegung von sexualisierter Gewalt
Im zweiten Panel diskutierten die betroffene ehemalige Wasserspringerin Jenny Richter, die Beraterin bei der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur Daniela Richter und der Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock, Carsten Spitzer, über therapeutische Begleitung und Selbsthilfe. Dieser berichtete, dass der Zugang zu geeigneter Psychotherapie äußerst schwierig sei, gerade in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern. Eine Therapie könne bei der persönlichen Aufarbeitung helfen, aber auch dabei, dass Betroffene eigene Ressourcen entdecken, um gesellschaftliche Aufarbeitung voranzutreiben. Auch eine Selbsthilfegruppe wie die der Sportgeschädigten könne weiterhelfen. Jenny Richter berichtete, dass die Gruppe sie regelrecht schockiert habe, weil sie erst dort in Gesprächen mit weiteren Betroffenen den Missbrauch bei sich aufdeckte. Es habe sehr lange gedauert, um zu begreifen, was damals im Sport losgewesen sei.
Mein Trainer hat seine Macht missbraucht, wo es nur ging. Und ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Meine Eltern waren interessiert, aber ich hatte das Gefühl, die waren immer damit einverstanden, was da passiert.
Jenny Richter
Die Stelle der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist im Hinblick auf die Sportgeschädigten 2016 mit einer Beratungsstelle für die Betroffenengruppe gestärkt worden. Obwohl es zunächst um Doping ging, taten sich in den Gesprächen noch weitere Themenbereiche auf, so Beraterin Daniela Richter. Neben Trainingsmethodiken, Polymedikation und politischer Indoktrinierung seien das auch Gewalt und Missbrauch gewesen, aus diesem Grund spreche sie auch nicht mehr von „Dopingopfern“. Richter begleitet die Selbsthilfegruppe, hilft bei Recherchen zum Beispiel nach Unterlagen und auch bei Anträgen bei Ämtern und Behörden. Elena Lamby, Leiterin des Ressorts Gesellschaftspolitik in der Deutschen Sportjugend (dsj) im DOSB, erklärte an dieser Stelle, dass die Absicht zwischen DOSB und Bundesinnenministerium bestehe, das Ergänzende Hilfesystem (EHS) über 2023 hinaus zu verlängern. Es sei jedoch noch nicht klar, was passiere, daher sollten Betroffene von Missbrauch im DDR-Sport möglichst noch in diesem Jahr Anträge stellen.
Im Abschlusspanel unterhielten sich der betroffene Wasserspringer Jan Hempel, Elena Lamby, Maximilian Klein als Vertreter der Athleten Deutschland e. V., sowie Angela Marquardt vom Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) über künftige Wege der Aufarbeitung.
Jan Hempel berichtete, dass er aus dem Schwimmverband eher Widerstand und Ablehnung erfahren habe, seit er in einer ARD-Dokumentation im Sommer 2022 den jahrelangen schweren sexuellen Missbrauch offenlegte, den er durch seinen Trainer erfuhr. Eine Entschuldigung von irgendeiner Seite habe es nicht gegeben. Als einzig positiv nehme er die Einrichtung einer Aufarbeitungskommission im Deutschen Schwimmverband wahr, denn Aufarbeitung tue not. Es müsse den Betroffenen einfacher gemacht werden, sich zu öffnen, denn oftmals dauere es Jahrzehnte, bis sie darüber reden könnten. Zu diesem Zeitpunkt seien viele Taten schon verjährt.
Es ist ein Kampf, dass diese Verjährungsfrist gekippt wird, weil die Betroffenen noch 30, 40 Jahre mit der Schmach leben müssen.
Jan Hempel
Verantwortungsübernahme fehlt
Maximilian Klein erzählte, dass das Hearing Sport der Aufarbeitungskommission für den Verein Athleten Deutschland ein Weckruf gewesen sei. Hier sei besonders deutlich geworden, dass eine unabhängige Anlaufstelle im Bereich Sport fehle. Diese ist mittlerweile, im Mai 2022, bei den Athleten Deutschland ins Leben gerufen worden. Sie richtet sich an Kaderathletinnen und -athleten, weist aber auch Betroffene aus dem Breitensport nicht ab. Bereits ein halbes Jahr später zählte „Anlauf gegen Gewalt“ fast 100 Ratsuchende. Aus Kleins Sicht gibt es im Sport viele Abhängigkeiten und teils familiäre Beziehungsgeflechte, die Aufklärung verhindern. In Bezug auf Machtmissbrauch seien die Landessportbünde unterschiedlich aufgestellt. Um Standards zu setzen und Prävention, Intervention und Aufarbeitung sicherzustellen, hat die Bundesregierung ein Zentrum Safe Sport in Aussicht gestellt. Derzeit läuft der Gründungsprozess mit Betroffenen, Verbänden und Organisationen im Bundesinnenministerium.
Elena Lamby stellte klar, dass jeder Verband, der Trainerlizenzen ausstelle, diese auch wieder entziehen könne, wenn er die Regularien entsprechend anpasse. Sie wünschte sich, dass das Thema Kinderrechte im Leistungssport noch mehr thematisiert wird.
Angela Marquardt bemängelte, dass der organisierte Sport bei Missbrauchsfällen regelmäßig versuche, die einzelnen Betroffenen in die Psychotherapie oder individuelle Aufarbeitung „abzuschieben.“ Für viele Betroffene sei die institutionelle Aufarbeitung aber die wichtigere Frage.
Der Sport ist bis heute nicht bereit, die Systemfrage zu stellen.
Angela Marquardt
Sie kritisierte, dass Betroffene in Prozessen der Aufarbeitung die Bedingungen ihrer Teilnahme immer wieder aushandeln müssten. Die Betroffenen wollten nicht als Opfer am Tisch sitzen, sondern sich als Expertinnen und Experten auf Augenhöhe mit Organisationen einbringen. Einig waren sich die meisten Podiumsgäste, dass es eine Verantwortungsübernahme des Sports für Menschenrechtsverletzungen im DDR-Sport geben müsse, und dass es eine Wahrung der Kinderrechte nur durch einen Wandel der Leistungssportkultur geben könne.
Die Unabhängige Beauftragte Kerstin Claus resümierte zum Abschluss des Fachgesprächs, dass es dafür eine spezifische Haltung der Verantwortungsträger des Sports benötige, sowohl auf der kommunalen, als auch auf Landes- und Bundesebene. Weil Haltung aber ein weicher Begriff sei, brauche es verlässliche Strukturen der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung. Betroffenen-Netzwerke müssten gestärkt werden, Forschung und Aufarbeitung vorangetrieben, sowie finanzielle Ressourcen durch eine gesetzliche Verankerung sichergestellt werden.
Zum Abschluss wies Christine Bergmann darauf hin, dass weitere regionale Veranstaltungen zum Thema sexueller Missbrauch in der DDR geplant sind. Die nächste findet bereits am 4. Juli 2023 in Magdeburg statt.
*Pseudonym
Fotos: photothek