Die Kommissionsmitglieder stellen sich vor: Julia Gebrande


29.06.2022 – Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, hat Julia Gebrande und Silke Birgitta Gahleitner als neue Mitglieder der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs berufen. Doch wer sind sie? Was hat sie angetrieben, sich der fachlichen und ehrenamtlichen Arbeit gegen sexualisierte Gewalt zu widmen? Und welche Akzente wollen sie in ihrer Arbeit setzen? Julia Gebrande, Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule Esslingen, stellt sich vor.


Frau Gebrande, Sie beschäftigen sich seit über 20 Jahren mit sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Wie hat es sich angefühlt, die Anfrage zu erhalten, ob sie in der Kommission mitwirken möchten?

Ich hatte Nachricht bekommen, dass der UBSKM, damals noch Herr Rörig, gerne mit mir telefonieren möchte, und dann habe ich schon überlegt, was könnte er denn von mir wollen? Wir hatten natürlich immer wieder Berührungspunkte und haben uns auf diversen Konferenzen und Fachtagen gesehen. Und als er mich dann gefragt hat, ob ich mir vorstellen könnte, in der Aufarbeitungskommission mitzuarbeiten, da habe ich mich richtig gefreut! Weil ich das Gefühl hatte, das passt so unglaublich gut zu dem, was ich als meine Berufung erlebe. Nicht nur als Professorin, sondern wirklich an den Themen zu arbeiten, gerade die Kombination von Aufarbeitung, Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt, dieses Dreigestirn ist so zentral. Für mich ist dabei die Betroffenenperspektive besonders bedeutsam. Die meisten Erkenntnisse, die ich in diesem Feld gewonnen habe, habe ich aus Gesprächen mit Betroffenen darüber, wie Bewältigung, wie Aufarbeitung funktionieren kann. Deswegen war es für mich ein schönes Erlebnis, von Herrn Rörig zu erfahren, dass es vor allem die Betroffenen waren, die mich für die Aufarbeitungskommission vorgeschlagen haben.

Wie haben Sie denn die Arbeit der Kommission bisher von außen wahrgenommen?

Für mich war die Aufarbeitungskommission immer schon ein Beispiel dafür, wie Betroffene beteiligt werden können und wie Aufarbeitung in Deutschland wirklich funktionieren kann. Denn ich würde sagen, in Deutschland sind wir da noch nicht so weit fortgeschritten. Es gibt andere Länder, aber auch Beispiele in anderen Themenfeldern, in denen die Aufarbeitung schon sehr viel weiter ist. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass wir in Deutschland aufgrund der Geschichte des Nationalsozialismus eine besondere Aufgabe haben in der Aufarbeitung.

Die meisten Erkenntnisse, die ich in diesem Feld gewonnen habe, habe ich aus Gesprächen mit Betroffenen darüber, wie Aufarbeitung funktionieren kann.

Wie waren die ersten Treffen mit der Kommission? Wie empfanden Sie die Arbeitsatmosphäre?

Ich bin ganz beseelt wieder nach Hause nach Esslingen gefahren, weil es so intensive Tage in Berlin waren. Es war auch besonders, beim Abschied von Peer Briken und Brigitte Tilman dabei zu sein und zu erleben, wie ihre Arbeit wertgeschätzt wurde. Und dass die neue UBSKM Kerstin Claus noch aus ihrer Perspektive aus dem Betroffenenrat gesagt hat, wie wichtig ihr die Kommission war. Das hat mich sehr berührt. Wir hatten dann ein erstes Kennenlernen, an dem wir uns gegenseitig erzählt haben, wie wir zu den Themen sexualisierte Gewalt und Aufarbeitung gekommen sind. Und es ist einfach bei allen immer eine persönliche Komponente dabei. Es geht um meine Geschichte, aber auch um meinen Zugang. Aber es wurde auch deutlich, dass die Kommission aktuell wahnsinnig viele Themenfelder bearbeitet, in denen Aufgaben zu verteilen ist (lacht).

Gibt es bei Ihnen auch einen Punkt, wo sich das Fachliche mit der persönlichen Leidenschaft für das Thema verbindet?

Natürlich, das kann gar nicht anders sein. Wie ich meine beruflichen Schwerpunkte setze, das hat ganz viel mit mir und meiner Lebensgeschichte zu tun. Ich selbst bin beispielsweise mit einer Körperbehinderung auf die Welt gekommen, und auch da habe ich mich mit vielen Aspekten auseinandersetzen müssen, die auch für unser Thema wichtig sind. Die Präventionsbotschaft ‚Mein Körper gehört mir‘ bekommt zum Beispiel eine ganz persönliche Bedeutung, wenn man als kleines Kind häufig Krankenhausaufenthalte und medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen musste.

Daneben war es mir aber auch immer wichtig, mich mit der Geschichte meiner Familie zu beschäftigen. Ich habe eine Großmutter, die ich sehr geliebt habe und die mir sehr nah war, die aber auch sehr engagiert war im Sport und in der „Kraft durch Freude“ Ideologie des Nationalsozialismus. Wir haben viel über diese Themen gesprochen, und deshalb war mir gerade die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ein persönliches Anliegen. Damit haben wir uns auch an unserer Hochschule in einer Historischen Forschungswerkstatt beschäftigt. Auch in der Sozialen Arbeit waren wir in nationalsozialistische Ideologien verstrickt, in Gewaltverhältnisse mit so genannten „eugenischen und rassehygienischen“ Überlegungen, die auch in unserer eigenen Professionsgeschichte aufgearbeitet werden müssen.

Also da besteht keine Scheu, die „weiße Weste“ der eigenen Profession in Frage zu stellen?

Genau! Mir ist es wichtig, mich mit den blinden Flecken zu beschäftigen, wo unsere eigene Profession, wo Theoriegeschichte in Gewaltverhältnisse eingewoben war. Wenn wir in die Soziale Arbeit schauen, haben wir leider sehr viele Aspekte, die wir untersuchen müssen. Viele Einrichtungen, in denen Sozialarbeitende tätig sind, sind so genannte „totale Institutionen“, da fusionieren Privat- und Arbeitssphäre. Das sind nicht nur Gefängnisse, auch Psychiatrien, Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Internate. Und erst in den letzten Jahren haben wir uns darum bemüht, die eigene Geschichte in den Blick zu nehmen und vor allem die Betroffenen zum ersten Mal anzuhören und ernst zu nehmen.

Gerade in Einrichtungen (der Behindertenhilfe) haben wir festgestellt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen denen, die ihre Geschichte noch nicht aufgearbeitet haben, und dem Umgang mit aktuellen Fällen.

Welche Schwerpunkte haben Sie in der Arbeit der künftigen Kommission übernommen?

Einer meiner Schwerpunkte wird die Aufarbeitung in Familien sein. Das ist eine besondere Herausforderung, weil die Kommission ja schon Empfehlungen für die Aufarbeitung in Institutionen herausgegeben hat, die ich sehr hilfreich finde. Aber es ist nochmal etwas Anderes, wenn da jemand die Aufarbeitung in die Hand nehmen und sich dafür verantwortlich fühlen kann.  Von daher beschäftigt mich die Frage wirklich: Wie kann denn Aufarbeitung auch in Familien funktionieren?

Wenn ich mit Betroffenen spreche, ist es oft unvorstellbar, welches Leid sie erleben mussten. Und trotzdem ist da eine unglaubliche Kraft und Stärke, dass sie das Ganze überlebt haben und jetzt sogar den Mut haben, an die Öffentlichkeit zu gehen. Das war schon immer ein Motor für mich, das hat mich geprägt, die menschlichen Begegnungen.

Ein anderer Schwerpunkt ist die sexualisierte Gewalt, die Menschen mit Behinderungen erfahren. Ich habe 5 Jahre im BeSt-Projekt (Beraten & Stärken), in einem bundesweiten Modellprojekt zum Schutz von Mädchen und Jungen mit Behinderung* vor sexualisierter Gewalt in Institutionen mitgearbeitet. Dort haben wir versucht, nicht nur die Kinder und Jugendlichen in den Blick zu nehmen, sondern alle Mitarbeitenden, von den Hausmeistern bis zu den Küchenkräften, damit alle sensibilisiert werden für sexualisierte Gewalt. In diesem Zusammenhang haben wir auch viel mit den Leitungen an Kinderschutzkonzepten gearbeitet, und ich glaube das braucht es in allen Einrichtungen. Es braucht ein gelebtes Schutzkonzept, und da müssen alle mit einbezogen werden, auch die Kinder und Jugendlichen. Gerade in den Einrichtungen haben wir festgestellt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen denen, die ihre Geschichte noch nicht aufgearbeitet haben, und dem Umgang mit aktuellen Fällen. Von daher halten wir es für absolut notwendig, dass nicht nur Prävention und Intervention bei aktuellen Fällen verankert wird, sondern dass sich die Einrichtungen auch mit der Aufarbeitung vergangener Gewalt beschäftigen.

Das Thema Schule ist ein drittes Thema. Schon in meiner Doktorarbeit in den Jahren 2010 bis 2014 habe ich mich damit beschäftigt: Was brauchen Kinder, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, im pädagogischen Alltag? Was kann zur Bewältigung ihrer Gewalterfahrung beitragen, wie können z.B. Selbstheilungskräfte unterstützt werden? Damals haben wir festgestellt: Gerade der Bereich Schule ist einer, in dem Veränderungen nur sehr langsam vorangehen.  Damals, als ich mich mit den Schulbehörden auseinandergesetzt habe, habe ich die Antwort bekommen: „Naja, so wichtig ist es nicht, dass wir da so viel Aufmerksamkeit hineinsetzen.“ Ich glaube, es ist inzwischen einiges passiert. Der frühere UBSKM hat es geschafft, die Kampagne ‚Schule gegen sexuelle Gewalt‘ zu starten. Und mehr und mehr Bundesländer beteiligen sich und die Schulen sehen inzwischen, dass es notwendig ist, dass sie Schutzkonzepte installieren. Aber das ist immer noch abhängig von engagierten Einzelpersonen. Also wenn es engagierte Lehrerinnen und Lehrer gibt, dann passiert vor Ort etwas. Ansonsten ist es häufig noch schwierig. Da sind noch dicke Bretter zu bohren.

Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

Ich bin überzeugt davon, dass Aufarbeitung im Sinne der Kommission auch zum individuellen Heilungsprozess beitragen kann.  Wir beschäftigen uns einerseits mit der individuellen Person, die uns ihre Geschichte erzählt, und andererseits ist es eine kollektive Aufarbeitung, weil wir nicht nur eine Geschichte anhören, sondern ganz viele Geschichten, weil wir uns für einen kollektiven Aufarbeitungsprozess einsetzen: Das wirkt wiederum auf das Individuum zurück. Und so können sich die individuelle Bewältigung und die kollektive Aufarbeitung gegenseitig bedingen.

Das Interview führte Sonja Gerth.


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