Aufarbeitungskommission zu Gast beim „Kamingespräch“ des IPA
29.10.2024 - Kommissionsvorsitzende Prof. Dr. Julia Gebrande und Kommissionsmitglied Prof. Dr. Stephan Rixen waren zu Gast beim „Kamingespräch“ des in Bonn ansässigen Instituts für Prävention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt e.V. (IPA). Das IPA veranstaltet diese Reihe seit 2020 mit verschiedenen Expert*innen zum aktuellen Stand der Prävention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen.
Julia Gebrande und Stephan Rixen gaben zunächst einen Einblick in die alltäglichen Aufgaben der Kommission und stellten die Möglichkeiten vor, die Betroffene nutzen können, um sich der Kommission anzuvertrauen. Sie beschrieben die Vernetzung mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) sowie die Zusammenarbeit mit anderen Gremien wie dem Betroffenenrat bei der UBSKM oder dem Nationalen Rat. Sie betonten dabei, wie wichtig es für die Arbeit der Kommission ist, interdisziplinär zusammengesetzt zu sein und berichteten, welche Bedeutung die Arbeit in der Kommission für sie persönlich hat.
Für Julia Gebrande ist die größte Motivation, sich in der Kommission zu engagieren, von Betroffenen zu lernen. Aufarbeitung ist ein relativ junges Thema, was den Bereich des sexuellen Kindesmissbrauchs betrifft. Darum ist das Wissen der Betroffenen immens wichtig.
Es war für mich eine große Ehre, als ich 2021 von Betroffenen als Kommissionsmitglied vorgeschlagen wurde.
Julia Gebrande
Prof. Dr. Stephan Rixens Anliegen ist vor allem, sein Wissen als Rechtswissenschaftler in die Arbeit der Kommission einzubringen, da juristische Fragestellungen bei der individuellen Aufarbeitung, aber auch bei Aufarbeitungsprozessen in Institutionen äußerst relevant sind. In diesem Feld möchte er sich für Verbesserungen für Betroffenen und Aufarbeitende einsetzen.
Neben diesen Fragen ging es in dem „Kamingespräch“ um das geplante Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen, mit dem sich aktuell die Parlamentarier*innen des Deutschen Bundestages beschäftigen. Die Kommission befürwortet dieses Gesetz, welches eine enorme Bedeutung für Betroffene und all diejenigen hat, die sich in diesem Bereich engagieren und für die Arbeit der Aufarbeitungskommission u.a. eine rechtliche Grundlage schafft.
Dennoch sieht die Kommission auch Schwächen im aktuellen Gesetzentwurf, zum Beispiel wenn es um ein Recht für Betroffene auf Aufarbeitung geht und um eine Pflicht für Institutionen aufzuarbeiten. Beides ist im Gesetz bisher nicht vorgesehen. Für Betroffene würde dies auch ein Recht auf Akteneinsicht beinhalten, was für die individuelle Aufarbeitung von großer Bedeutung wäre. Die Kommissionsmitglieder kritisierten, dass die Akteneinsicht bisher auf die Kinder- und Jugendhilfe beschränkt ist. Das betrifft beispielsweise Jugendamtskaten. Darüber muss das Gesetz hinausgehen und auch andere Bereiche wie den Sport, die Schule und Religionsgemeinschaften einschließen. Zudem ist im Gesetz nicht vorgesehen, dass Betroffene bei der Akteneinsicht unterstützt und begleitet werden.
In unseren Gesprächen mit Betroffenen wird klar, dass sie zum Beispiel auch nachvollziehen wollen, warum ihnen nicht geholfen wurde. Das Wissen aus den sie betreffenden Akten hilft Betroffenen, Lücken in ihrer Biografie zu schließen.
Stephan Rixen
Neben der Stärkung individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Aufarbeitung, die das Gesetz schaffen würde, muss der Staat aber auch selbstkritisch auf die eigene Verantwortung in Bezug auf Aufarbeitung blicken. Dazu gehört es auch, die finanzielle Grundlage dafür zu schaffen, damit die Kommission die für sie im Gesetz zusätzlich vorgesehenen neuen Aufgaben bewältigen kann. Dies betrifft vor allem die Begleitung und Bewertung institutioneller Aufarbeitungsprozesse sowie die Berichtspflicht an den Bundestag. So umfangreiche Aufgaben können die ehrenamtlich arbeitenden Kommissionsmitglieder ohne zusätzliches Personal nicht erfüllen. Darum setzt Julia Gebrande darauf, dass die personelle und finanzielle Ausstattung zur Durchführung dieser Aufgaben im weiteren Gesetzgebungsverfahren gewährleistet wird, denn:
Es gibt keinen einzigen Bereich, in dem sexueller Kindesmissbrauch geschieht, von dem bis heute gesagt werden kann, Aufarbeitung sei dort abgeschlossen. Aufarbeitung hört nicht auf, sie hat kein Verfallsdatum. Es handelt sich dabei um einen Dauerauftrag, der nicht nach ein paar Jahren beendet ist.
Julia Gebrande
Stephan Rixen betonte, dass die Kommission den Auftrag hat, stellvertretend für den Staat, das erlittene Unrecht anzuerkennen. Das gelingt ihr, in dem sie für Betroffenen sichere Möglichkeiten schafft, sich anvertrauen zu können, entweder in einer vertraulichen Anhörung oder mit einem schriftlichen Bericht. Aber das Sprechen alleine reicht nicht aus. Es müssen dann auch Konsequenzen aus den Erkenntnissen gezogen werden, wie Kinder und Jugendliche besser geschützt sowie wie erwachsene Betroffene besser unterstützt werden können. Dabei stellt sich den Kommissionsmitgliedern auch für die Zukunft die Frage, wie sie auf Bereiche aufmerksam machen können, die bislang kaum beleuchtet wurden, und wie sie diese Betroffenen sexualisierter Gewalt erreichen können, so Stephan Rixen und Julia Gebrande. Sie erinnerten beispielhaft an Menschen mit Behinderungen oder mit Einwanderungsgeschichte, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erleben mussten.
Daneben arbeitet die Kommission daran, wie Betroffene, die sexualisierte Gewalt in der Familie erlitten haben, bei der Aufarbeitung unterstützt werden können. Gerade die Familie, in der Kinder und Jugendliche besonders geschützt aufwachsen sollten, ist der Bereich, in dem Missbrauch am häufigsten geschient. „Hier braucht es in der Gesellschaft noch viel Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung. Denn die meisten Menschen gehen immer noch davon aus, dass Missbrauch nicht in der eigenen Familie und im eigenen Umfeld stattfindet und dass sie selbst weder Betroffene noch Täter*innen kennen. Diese Fehlannahme verhindert Schutz und Hilfe, so Julia Gebrande.
Ein weiteres Projekt, an dem die Kommission gemeinsam mit UBSKM und dem Betroffenenrat arbeitet, geht der Frage nach, wie die Beteiligung Betroffener an institutionellen Aufarbeitungsprozessen gelingen kann: Wie können Betroffene Aufarbeitung initiieren und kritisch begleiten und wie kann in dem Prozess dafür gesorgt werden, dass sie mit ihrer Stimme im Fokus stehen?
Abschließend wurde Julia Gebrande als Vorsitzende der Kommission gefragt, worauf die Mitglieder der Kommission besonders stolz seien:
Wir blicken mit großem Respekt und Stolz auf die Pionierarbeit, die vor allem Christine Bergmann, die erste Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und die ersten Mitglieder der Kommission geleistet haben, mit der sie diese Kommission aufgebaut und die die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland maßgeblich vorangebracht haben – und das mit sehr begrenzten Ressourcen, aber unbegrenzter Zuversicht.
Julia Gebrande