Aufarbeitungskommission führt 2. Öffentliches Hearing „Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR“ durch


11.10.2017 Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hört in einem öffentlichen Hearing in Leipzig Betroffene an, die in der DDR sexuellen Kindesmissbrauch erlebt haben.


Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs führt heute in Leipzig ihr zweites öffentliches Hearing durch. Im Rahmen der Veranstaltung auf dem Mediencampus Villa Ida sprechen Betroffene und weitere Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Praxis über sexuellen Kindesmissbrauch in der DDR.

Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen gehört zu den weißen Flecken in der Wahrnehmung der DDR-Geschichte. Das liegt maßgeblich an der starken Tabuisierung des Themas in der DDR, die weit über das übliche Verschweigen und Vertuschen hinausging. Abweichendes oder kriminelles Verhalten galt in erster Linie als Angriff auf den sozialistischen Staat und nicht auf das Opfer.

Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin a.D. und Mitglied der Kommission: „Das Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen war in der DDR weit mehr und länger tabuisiert als in den alten Bundesländern. Sexueller Kindesmissbrauch war in der DDR ein Politikum, wie auch die beauftragte Expertise nachweist. Weder privat noch öffentlich wurde über Kindesmissbrauch oder über einen Aufenthalt im Jugendwerkhof gesprochen. Und dieses lange Schweigen wirkt nach. Betroffene erzählen noch heute, dass sie nicht über einen Heimaufenthalt reden können und schon gar nicht über erlebten Missbrauch, sie fühlen sich noch immer stigmatisiert.“

Es ist eine der Aufgaben der Aufarbeitungskommission, sexuellen Kindesmissbrauch in der DDR zu untersuchen. Die Geschichten der Betroffenen tragen entscheidend dazu bei. Aus den eingereichten schriftlichen Berichten und den bisher durchgeführten vertraulichen Anhörungen hat die Kommission einen intensiven Eindruck hinsichtlich der Folgen des Missbrauchs für Betroffene sowie ihrer Bedürfnisse gewonnen. In den Biografien fällt vor allem die Mehrfachbetroffenheit von sexueller Gewalt auf. So kam es zum Beispiel vor, dass Mädchen und Jungen ein auffälliges Verhalten aufgrund sexuellen Missbrauchs in der Familie entwickelten. In Folge dessen wurden sie in ein Heim eingewiesen und waren dort erneut sexueller Gewalt ausgesetzt. Die Kontaktaufnahme nach draußen war in Spezialheimen, Durchgangsheimen und Jugendwerkhöfen besonders schwierig, so dass Betroffene dort kaum Hilfe erwarten konnten.

Corinna Thalheim, Vorstandsvorsitzende der Betroffeneninitiative „Missbrauch in DDR-Heimen“ e. V., Leiterin der Selbsthilfegruppe für sexuellen Missbrauch in DDR- Heimen „Verbogene-Seelen“: „Wichtig für die Betroffenen ist, dass man eine Gleichstellung zu allen anderen Opfern des DDR-Regimes herstellt. Die sexuelle Gewalt in den Heimen findet bisher keine bzw. wenig Beachtung. Mehrfachbetroffenheit muss endlich auch von der Politik anerkannt werden. Es gibt keine Möglichkeit, Hilfe und Anerkennung des Leides zu bekommen.“

Die gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der DDR ist Voraussetzung dafür, dass die Leiderfahrungen der Betroffenen und das ihnen geschehene Unrecht anerkannt werden.
In den Gesprächen mit den Betroffenen werden häufig die Mängel des heutigen Hilfesystems erwähnt:

Für Betroffene aus der DDR stehen nur wenige Fachberatungsstellen zur Verfügung. Und diese verfügen über eine geringe personelle und finanzielle Ausstattung. Auch wird das erlebte Unrecht durch fehlende oder begrenzte Entschädigungsleistungen unzureichend anerkannt.

Expertise „Historische, rechtliche und psychologische Hintergründe des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in der DDR“

Die historische Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der DDR erfordert gründliche Kenntnisse über den zeitgeschichtlichen Kontext, die politisch-ideologischen Hintergründe und die damalige Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Die Expertise soll hierzu eine erste Orientierungshilfe geben. Die Autoren Stefanie Knorr, Dr. Christian Sachse und Benjamin Baumgart haben dafür 250 Fälle gesichtet und 150 Fälle genauer ausgewertet. Die Expertise zeigt, dass für viele Betroffene die Kindheit in der DDR untrennbar mit den staatlichen politisch- ideologischen Strukturen in allen Lebensbereichen verbunden ist. Das Strafrecht der DDR war täterzentriert ausgerichtet. Es ging um Bestrafung, Disziplinierung und Wiedereinpassung des Täters ins Kollektiv, nicht um Aufklärung, Lösungsangebote oder gar Hilfen insbesondere für die Betroffenen.

Stefanie Knorr, Diplompsychologin und Mitarbeiterin der Beratungsstelle für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur „Gegenwind“, Co-Autorin der Expertise stellt auf Basis der geführten Interviews mit Betroffenen und Fachkräften aus Psychotherapie und Heimerziehung fest: „Für Betroffene war es regelrecht unmöglich über ihre Erfahrungen zu sprechen, da es sexuellen Missbrauch in der DDR offiziell nicht gab. Professionelle Begleitung und Therapie für Betroffene gab es entsprechend nicht. Die sozialistische Persönlichkeit hatte frei von psychischen Auffälligkeiten zu sein. Das hatte tiefgreifende Folgen für die Betroffenen bis weit ins Erwachsenenalter hinein.“

Ein Aspekt der in vorherigen Forschungen und Untersuchungen kaum Beachtung fand, sind Täter im Staatsdienst. Wurden Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sexuellen Kindesmissbrauchs beschuldigt, zog das MfS die Untersuchung sofort an sich. Die Täter wurden zunächst aus dem MfS entlassen und bekamen einen zivilen Beruf, ehe sich Gerichte mit ihren Taten befassten. Die Zugehörigkeit zum MfS sollte in den Ermittlungsakten nicht erkennbar sein. Teilweise schuf das MfS den Tätern nach Haftentlassung wieder neue Legenden und setzte sie dann weiter als IM (Inoffizielle Mitarbeiter) ein. Die Geheimhaltung der Strukturen war wichtiger als der Opferschutz und die Verhinderung weiterer Straftaten.

Die Expertise finden Sie unter:
https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/2017/10/Expertise-DDR_online.pdf

Betroffene und andere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die sich über die Arbeit der Kommission informieren oder einen schriftlichen Bericht einreichen möchten, können sich telefonisch (0800 4030040 – anonym und kostenfrei), per E-Mail oder Brief an die Kommission wenden. www.aufarbeitungskommission.de


Pressekontakt

Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs

Kirsti Kriegel
Telefon: +49 (0)30 18555-1571
Fax: +49 (0)30 18555-4 1571
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